Donnerstag, 4. Dezember 2014

Reportage: Die Angst vor der Bombe


Atomexplosion in Nevada © Public Domain
25 Jahre nach dem Ende des kalten Krieges lagern immer noch amerikanische Atomwaffen auf deutschem Boden. Doch die deutsche Bevölkerung weiß nicht mit Sicherheit, wo sie lagern. Ein heißer Kandidat ist der Fliegerhorst Büchel in der Eifel. Ich frage daher per E-mail bei der Bundeswehr an. Etwa eine Woche später bekomme ich einen Anruf von einem Presseoffizier der Luftwaffe in Köln-Wahn.
„Ich weiß ja, worauf Ihre Frage hinausläuft.”, sagt er.
„Ach ja?”, frage ich und kann meine Belustigung kaum verbergen. „Worauf läuft denn meine Frage hinaus?”
Eine direkte Antwort des Presseoffiziers erhalte ich nicht. Stattdessen sagt er: „Warum wollen Sie denn den Fliegerhorst Büchel überhaupt besichtigen? Sie können auch jeden anderen Fliegerhorst an einem Tag der offenen Tür besuchen.”
„Aber ich will Büchel sehen. Ich will wissen, wie es dort aussieht. Ich will einen Tornado starten sehen”, beharre ich. „Haben Sie dort keinen Tag der offenen Tür?”
Schweigen. Dann sagt er: „Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen.”
Der Presseoffizier vertröstet mich mit Broschüren der Luftwaffe, die er mir zuschicken will. Damit beendet er das Gespräch höflich – aber bestimmt.

Die Bundeswehr schweigt also und veröffentlicht keine Informationen darüber,
1) ob und 2) wo amerikanische Atomwaffen auf deutschem Boden lagern. Der Presseoffizier hat mit der Geheimniskrämerei meinen journalistischen Ehrgeiz entfacht. Wenn mir die Bundeswehr keine Informationen mitteilt, muss ich eben von Außen nach Innen recherchieren, so wie ich es gelernt habe. Ich folgere:  Präsident Obama müsste ein großes Interesse daran haben, die Atomwaffen aus Europa abzuziehen, denn er hat sich in Berlin zur Abrüstung aller Nuklearwaffen bekannt. Er wird darüber wahrscheinlich mit Kanzlerin Merkel gesprochen haben. Daher schaue ich in den Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Was weiß unsere Regierung über Nuklearwaffen?
Ich lade den Koalitionsvertrag als PDF herunter. Auf Seite 118 steht wörtlich: „Erfolgreiche Abrüstungsgespräche schaffen die Voraussetzung für einen Abzug der in Deutschland und Europa stationierten taktischen Atomwaffen.”

Hier finde ich also die Antwort auf die Frage 1): Der Koalitionsvertrag bestätigt, dass auf deutschem Boden Nuklearwaffen lagern. Ich sehe mir ältere Koalitionsverträge an. Auch sie bestätigen die Lagerung von Atomwaffen auf deutschem Boden und das Bemühen, diese abzuziehen. So zum Beispiel die Koalitionsverträge zwischen der SPD und den Grünen in den Jahren 1998 und 2002. Meine Recherchen ergeben, dass von der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder/Joschka Fischer seltsamerweise auch keine Anstrengungen unternommen wurden, die Atomwaffen aus Deutschland zu verbannen.
Ich recherchiere weiter – und stoße auf Frau P.. Gelegentlich dringt die Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden durch ihre Aktivitäten ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Frau P. ist promovierte Pharmazeutin und wohnt in dem kleinen Ort Leienkaul in der Eifel. Kurz entschlossen setze ich mich mit ihr telefonisch in Verbindung und vereinbare einen Termin. Vielleicht finde ich eine Antwort auf die Frage, wo sich die Atombomben in Deutschland befinden.

Leienkaul

„Ich hatte Angst, die zünden mir vor lauter Wut mein Haus an.”, erzählt sie mir.
Frau P. ist über siebzig, fährt aber immer noch regelmäßig mit ihrem Freund in den Ski-Urlaub. Die Frau mit den ergrauten Locken und der gesunden Gesichtsröte ist mit einem hellen Norweger-Pullover und einer Blue-Jeans gekleidet und wirkt körperlich fit. Sie wirkt nicht so, als ob sie sich leicht einschüchtern ließe. Von der Terrasse ihres Hauses streift ihr Blick über die liebliche, hügelige Landschaft der Eifel. Sie erinnert sich. Wenn Frau P. mit Flugblättern von Haus zu Haus zog, um die Menschen über die letzten Atombomben in Deutschland aufzuklären, seien die Leute mit Heckenscheren oder Spaten auf sie losgegangen. Sie lacht. „Aber ich konnte immer ausweichen. Ich habe nie provoziert und habe mich dann immer schnell verzogen.”
So habe es lange gedauert, bis die Leute in der Gegend überhaupt verstanden hätten, mit welcher Gefahr sie täglich lebten. So erging es auch Frau P. anfänglich. „Wir haben das Haus 1980 gekauft. Erst 1996 habe ich von diesen Atomwaffen erfahren. Sechzehn Jahre habe ich hier gelebt, ohne zu wissen, was sich da drüben abspielt.”


Mit „da drüben” meint Frau P. den Fliegerhorst Büchel, auf dem vier Kilometer von ihrem Haus entfernt seit dem Jahr 1965 im Rahmen der sogenannten „Nuklearen Teilhabe” der NATO Atomwaffen vom Typ B-61 lagern, wie sie glaubt. Frau P. war zunächst allein mit ihrer Meinung. Viele Bewohner der Ortsgemeinden sehen den Fliegerhorst Büchel als Wirtschaftsstandort durch die Friedensdemonstrationen gefährdet, die Frau P. zusammen mit einem evangelischen Pfarrer organisiert. Die Behauptung, der Flugplatz werde nach einem Abzug der Bomben geschlossen, sei ein Gerücht, das an den Stammtischen geschürt würde, so Frau P.. Als in der Ferne das dumpfe Grollen von Tornado-Kampfbombern anschwillt, um Sekunden später wieder abzuebben, schüttelt sie den Kopf. „Ich kann keine Garantie geben, dass der Fliegerhorst bis 2090 hier sein wird. Aber auf jeden Fall verschwindet er nicht in dem Moment, in dem die Bomben abgezogen werden.”


B61-Nuklearbomben © Public Domain
Ich erinnere mich jetzt an eine Pressemeldung vom Juli 2014. Die Bundesregierung hat den Plänen des amerikanischen Verteidigungsministeriums zugestimmt, die Atombomben zu modernisieren und durch eine neue Generation von Nuklearwaffen zu ersetzen. Diese Bomben vom Typ B-61-3 und B-61-4 haben eine variabel einstellbare Sprengkraft von 0,3 bis zu 50 Kilotonnen, also das Dreizehnfache der Hiroshima-Bombe. Der Feuerball einer solchen 50 Kilotonnen-Bombe, am Brandenburger Tor gezündet, würde etwa 350 Meter messen. Innerhalb eines Radius von 0,8 Kilometern würden alle Gebäude aus Beton eingeäschert. Nichts würde in diesem Gebiet mehr stehen. Sterblichkeitsrate: 100%. Berlin gliche zwischen Tiergarten und Berlin-Mitte einer Trümmerwüste. Die Strahlendosis würde bis zu einem Radius von 1,64 Kilometern etwa 500 rem betragen – etwa 50% bis 90% der Menschen in diesem Bereich sterben. Die Schockwelle des Luftdrucks würde 1,8 Kilometer weit reichen. Die Zerstörung nähme vom Zentrum der Detonation zum Ende der Druckwelle proportional ab. Doch selbst an den Ausläufern der Rathenaustraße im Nordwesten und der Oranienstraße im Südosten wären die Schäden an den Gebäuden katastrophal. Über 2,8 Kilometer hinweg würde die Hitze Verbrennungen dritten Grades auf der menschlichen Haut verursachen. Die Detonation einer B61-Bombe in Berlin würde also innerhalb weniger Stunden über eine Millionen Menschen töten. Der radioaktive Fallout würde nach der Explosion den Himmel über der Hauptstadt verdunkeln und großflächig verseuchen. Ein Alptraum.

Frau P. zeigt den Stützpunkt auf einer Landkarte, dort, wo der potentielle Auslöser dieses Alptraums liegt. Im Süden, Richtung Gevenich, vermutet sie die Atomwaffen, denn dort beginnt die Startbahn. Im Ernstfall könnten die Tornados innerhalb weniger Minuten mit den Atombomben bestückt werden. Doch das macht jedoch taktisch betrachtet wenig Sinn: Im Ernstfall könnten die Tornados über deutschem Boden von feindlichen Kräften abgeschossen werden, sodass die Bomben nicht auf Feindesland detonieren, sondern beispielsweise die Gegend um Berlin einäschern. Der Feind ist für die NATO seit der russischen Invasion auf der Krim und dem Krieg in der Urkaine verstärkt im Osten zu suchen, doch ist die Reichweite der Tornados auf die ostdeutsche Grenze beschränkt. Zur Zeit des kalten Krieges sollten russische Truppen auf DDR-Boden mit diesen Atombomben aufgehalten werden.

Wer Deutschland plattmachen wolle, meint Frau P., der brauche nur Büchel anzugreifen. Sie erwähnt die Vereinigung amerikanischer Wissenschaftler FAS und den Abrüstungsexperten Hans Kristensen, der im Juni 2008 nach einem Bericht der US Air Force auf die unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen in Büchel hinwies. Aber auch das scheint niemanden zu interessieren. Von Gerichten ganz zu schweigen: Frau P. zog vor das Oberverwaltungsgericht in Münster, um den Abzug der Atomwaffen einzuklagen. Doch ihre Klage wurde abgewiesen. Frau P. lässt sich jedoch nicht beirren. Ihr Klageantrag gegen die Bundesrepublik Deutschland liegt dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vor. Ausgang offen, Hoffnung gegen Null. Daher bleiben die Bomben – und die Gefahr.

„Eine Gefahr besteht immer, wenn die Bomben zur Wartung aus den sogenannten Grüften hochgefahren werden”, erzählt Frau P.. Ihr Blick verrät Unbehagen. „Das passiert öfter als zweimal im Jahr.”
Es wäre der richtige Moment für Terroristen, um sich die Atombomben mit Waffengewalt anzueignen. Die Luftwaffensicherungsstaffel Sonderwaffen, die rund um die Uhr in drei Schichten Dienst führt, bewacht zusammen mit amerikanischen Soldaten des 702. Munition Support Squadron (MUNSS) die Lagerungsgrüfte vor Terrorangriffen und sonstigen möglichen Zwischenfällen. „Da sind acht Grüfte, in denen jeweils vier Sprengköpfe lagern. Theoretisch kann man zweiunddreißig Waffen lagern.”, sagt sie. Vermutlich sind es zwanzig Atomwaffen, wie Hans Kristensen von der FAS vermutet.


Demonstration am Fliegerhorst Büchel
im Jahr 2008 © Public Domain
Frau P. und ihre Mitstreiter von der Friedensbewegung glauben, dass die Lagerung der Bomben nicht ohne Folgen für die Umwelt sei. Sie führt eine Liste mit verstorbenen Angehörigen des damaligen Jagdbombergeschwaders 33. „Wir haben vermutet, dass einige von denen verstrahlt worden sind und dass es unter ihnen eine hohe Krebsrate gab.” Ein an Krebs erkrankter Wachmann sei an sie herangetreten. „Der sagte mir, da sind so viele krebskrank geworden, dass könne doch nicht mit rechten Dingen zugehen.” Schilddrüsenkrebs, Lungenkrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs – alles sei dabei gewesen. Das Gesicht von Frau P. ist wie versteinert, als sie sagt: „Jetzt sind die praktisch alle tot von dieser Schicht. Eine Schicht sind vierzig Leute.”
Aber das werde hier in der Gegend verdrängt. Wahrgenommen würden nur die Demonstrationen und die Tatsache, dass im September 2008 mehr als 4500 Polizisten und Soldaten auf 2000 friedliche Demonstranten angesetzt waren. Ein kostspieliger Sicherheitsaufwand, der unter den Menschen in der Region Verärgerung erzeuge.

Cochem
Das glaubt auch Herr Z.. Ich treffe mich mit ihm in einem Café in der Cochemer Altstadt. Der freie Journalist hat Verständnis für die Friedensaktivitäten von Frau P., aber auch für die Sorgen der Bevölkerung, die das Taktische Lutwaffengeschwader 33 des Fliegerhorstes Büchel als Hauptarbeitgeber betrachtet. Herr Z., ein großer, untersetzter Mann Anfang vierzig und zurückweichendem, kurzem Haar, zeigt auf die andere Seite der Mosel. „Sehen sie das? Hotels, Hotels, Hotels. Im Winter sind fast alle geschlossen. Außer Tourismus geht hier so gut wie nichts. Da ist die Bundeswehr mit Abstand einer der größten Arbeitgeber in der Region.” Um uns herum sind die Tische mit Dutzenden von niederländischen Touristen besetzt.

Das Taktische Lutwaffengeschwader 33 bestimmt die journalistische Arbeit von Herrn Z. mehr als alle anderen Themen. Doch sowohl die Bundeswehr als auch die Friedensbewegung seien schwer zufrieden zu stellen. „Die Bundeswehr ist auch nicht begeistert, dass ich andauernd über die in der Zeitung schreibe”, schmunzelt Herr Z. und schlürft seinen Kaffee. „Meistens habe ich über sie bei einem Kommandeurswechsel berichtet. Bei den Bundeswehrleuten habe ich das Gefühl, dass sie denken, ich horche sie aus.”
Herr Z. wird regelmäßig mit Vorwürfen des Taktischen Lutwaffengeschwaders 33 konfrontiert, zu oft für die Friedensbewegung zu schreiben. „Zur Vierzig-Jahr-Feier des Bombergeschwaders habe ich darüber berichtet. Da kam ein Dankesschreiben vom Kommodore, wie toll mein Bericht war. Zwei Wochen später habe ich über die Friedensbewegung geschrieben. Da kam dann vom selben Kommodore ein Anruf beim Chefredakteur, warum wir der Friedensbewegung so großen Platz einräumen.”

Für Herrn Z. ist offensichtlich, dass auf dem Fliegerhorst Atomwaffen lagern. Als der neue Tower des Fliegerhorstes eingeweiht wurde, schickte die Redaktion seiner Zeitung Herrn Z. für einen Bericht dorthin. Ein schelmisches Grinsen huscht über sein Gesicht. „Dann war ich mit dem Presseoffizier oben im Tower und ich fragte ihn, ob ich Bilder machen dürfe von einem startenden Tornado. Der Offizier gestattete das. Als ich die Kamera rüberschwenkte, sagte der Offizier ‚da net hin’. Als ich fragte, warum nicht, bekam ich die Antwort: ‚Weißt du doch. Da lagern die Dinger.’”
Für Herrn Z. klingen die Erklärungen der Friedensbewegung, welche Gefahren die Bomben bergen, plausibler als die Beschwörungen der Bundesregierung, die nukleare Teilhabe zum Schutz des Landes aufrecht zu erhalten. Die Indizien sprächen eindeutig für Atomwaffen auf dem Fliegerhorst Büchel. Wie Frau P. in Leienkaul, so ist sich hier auch Herr Z. sicher.

Höchstberg
Doch das sieht Frau M. in der Ortsgemeinde Höchstberg, etwa sieben Kilometer vom Fliegerhorst entfernt, etwas anders. „Ob die Bomben da liegen, ich weiß es nicht”, sagt sie. „Man hört es dann immer wieder verstärkt, wenn die Demonstrationen stattfinden, die hier aber im Prinzip auf gar kein Interesse stoßen.”
Frau M., über fünfzig, verheiratet, ist Mutter von zwei Kindern im Teenageralter, studierte Naturwissenschaftlerin, jetzt Besitzerin eines Buchladens. Die Angst vor allem Neuen und Fremden sei in der Eifel vorherrschend, berichtet sie. Das ist eine Beobachtung, die ich während meiner Recherchen in der Eifel ebenso gemacht habe. Niemals zuvor bin ich auf eine größere Wand der Ablehnung und des Schweigens gestoßen. Auf zehn Anfragen kam nur eine Zusage. Die abwehrende Reaktion der Menschen auf die Friedensdemonstrationen ordnet Frau M. so ein, dass man Angst habe, den Arbeitsplatz zu verlieren, wenn der Stützpunkt durch den Abzug der Atomwaffen geschlossen werde könnte.

In der Küche streiten sich ihre Kinder, und Frau M. hat Mühe, dagegen anzusprechen. „Mein Bruder arbeitet auf dem Fliegerhorst im Wachdienst. Mein Schwager ist Installateur und macht dort die Wasserwartung.”
Einer ihrer Neffen sei auf dem Fliegerhorst zum Flugzeugmechaniker ausgebildet worden. Sie habe viele Bekannte, die dort bei der Feuerwehr arbeiten oder gearbeitet haben. Auch kenne sie Soldaten, die dort ihren Dienst verrichten. Und die Bomben? Es interessiere die Beschäftigten auf dem Fliegerhorst und auch die Menschen der Region nicht, ob „dort oben” Nuklearbomben lagern. Ganz im Gegenteil wäre die Idee, dass der Fliegerhorst geschlossen werden könnte, ein Schreckgespenst, so Frau M.. So nah die Bomben faktisch auch sein mögen – zu abstrakt sei die mögliche Bedrohung.

Alflen
Auch für Herrn T. ist die Vorstellung beunruhigend, dass das Taktische Lutwaffengeschwader 33 abgezogen werden könnte. Herr T. ist in der Gemeinde des verschlafenen Dorfs Alflen tätig, das nur einige hundert Meter von der Startbahn des Fliegerhorstes entfernt liegt. Als ich durch Alflen fahre, bemerke ich, dass die Rasen und Hecken in den Vorgärten akkurat gestutzt sind. Das Kaminholz ist ordentlich gestapelt. Kein Dreck liegt auf der Straße. Es gibt einen Tante-Emma-Laden mit Getränkemarkt, eine Bäckerei, eine Metzgerei, einen Friseur. Nur jede Stunde fährt ein Bus. Herr T. hat jahrelang im Motorenbereich gearbeitet und ist jetzt in Rente. „Der Fliegerhorst ist natürlich der größte Arbeitgeber hier in unserer Region und den wollen wir uns auch erhalten”, betont der besonnen wirkende Mann mit tiefer Stimme. „Ansonsten haben wir keine großen Betriebe.”

Sehr eng sei die Zusammenarbeit der Ortsgemeinde mit dem Taktischen Lutwaffengeschwader 33. Die Feuerwehr sei auf dem Fliegerhorst natürlich ein großer Arbeitgeberfaktor. Einige Bürger Alflens seien bei der Hundeschutzstaffel, als Flugzeugmechaniker, Elektriker, Dachdecker, Schlosser tätig. Undenkbar, dass der Fliegerhorst geschlossen werden könnte. „Das wäre für uns hier, nicht nur für Alflen, für die ganze Region, für den Kreis Cochem-Zell, schon ein Einbruch”, brummt Herr T.. Er schiebt sich die randlose Brille auf die Nase zurück und lehnt sich vor. „Wie will man das industriell oder sonst wie wettmachen?”

Die Friedensdemonstrationen sind ein heißes Eisen für Herrn T. Er sagt: „Wer ist für Atombomben? Im Prinzip keiner. Wenn die Bomben an Ort und Stelle verschrottet würden, dann würde jeder Bewohner von Alflen dafür sein.”
Aber wenn die Bomben nur verlagert würden Richtung Osten oder in die Türkei, dann seien die Waffen immer noch nicht verschwunden und wären immer noch zum Einsatz bereit. Ob eine Bombe nun hier in Alflen liege oder 1000 Kilometer weiter weg, die Gefahr sei dann nach wie vor da. Wenn die Bomben verschwänden, dann wäre der strategische Nutzen des Fliegerhorstes in Frage gestellt – und daher bald verschwunden.
„Ganz offiziell wird es ja nicht zugegeben”, fügt Herr T. augenzwinkernd hinzu. „Wir gehen schon davon aus, dass da oben was ist. Aber gesehen hat die Bomben noch keiner. Von uns zumindest nicht.”

Ulmen
Für Pfarrer B., Mitte fünfzig, ist die Frage, ob auf dem Fliegerhorst Büchel Atombomben lagern, zweitrangig. Pfarrer B. glaubt, dass die Menschen die direkten Auswirkungen des Fliegerhorstes und der Bomben auf tragische Weise am eigenen Leib spüren. Er kann das bestens beurteilen, denn er ist auch Seelsorger der Region. Im Büro des schütteren, in schwarzem Anzug und weißem Römerkragen gekleideten Mannes stehen Bücherregale mit theologischen Werken. In der Luft schwebt das süßliche Aroma von Pfeifenrauch. Er strahlt eine besonnene Ruhe aus. „Ich versuche, den Menschen die Freude am Leben näherzubringen. Und auch, letztendlich den Sinn des Lebens zu finden”, sagt Pfarrer B. schmunzelnd.

Diese Arbeit erweist sich für ihn jedoch als schwierig. In den Jahren, in denen er als Pfarrer in der Gemeinde tätig ist, beklagte er zehn Selbstmorde von jungen Menschen im Alter von 14 bis 30 Jahren. Die Perspektivenlosigkeit der Region scheint sich dramatisch auf das Gemüt junger Menschen niederzuschlagen. Schiere Existenzangst, glaubt er. Hinzu komme eine alarmierende Häufung von Krebsfällen in Ulmen, Alflen und Umgebung. Allein im Jahr 2007 musste Pfarrer B. drei Mitglieder der Wachmannschaft des Fliegerhorstes beerdigen, die an Krebs verstarben. Seine Stimme senkt sich beinahe zu einem Flüstern. „Ich weiß, dass es hier in der Region und in den Jahren, in denen ich hier bin, sehr viele Todesfälle gab, die mit Krebs zu tun hatten.”
Immer wieder entstehen Pausen, in denen Pfarrer B. nach Worten sucht. „Das ist eigentlich die Mehrheit der Fälle”, sagt er. „Auch im hohen Alter noch. Aber es sind auch sehr viele junge Menschen, die an Krebs sterben.” Er betont, dass das seine ganz subjektive Meinung sei. Ich spüre seine Angst.

Pfarrer B. zündet seine Pfeife an und denkt nach. Die meisten Leute, die hier gestorben sind, hätten einen Arbeitsplatz am Stützpunkt gehabt, bestätigt er. Diese Beobachtung deckt sich mit der Aussage von Frau P. in Leienkaul. Viele Soldaten im Ruhestand seien an Krebs verstorben – Pfarrer B. sieht einen direkten Zusammenhang. „Zwei Drittel der Todesfälle, die ich habe, sind Krebserkrankungen. Es sind auch sehr viele Fälle von Menschen, die erkrankt aber noch nicht verstorben sind.” Der Anteil sei relativ hoch. Aber leider habe er dafür keine wissenschaftlichen Belege. Bislang hat diese Tatsache aber keinen Reporter irgendeiner Zeitung oder eines Fernsehmagazins interessiert. Vielleicht aus Unkenntnis, vielleicht aus Angst vor Repressalien.

Büchel
Ich parke in sicherer Entfernung zum Fliegerhorst und blicke durch mein Teleobjektiv. „Militärischer Sicherheitsbereich. Vorsicht Schusswaffengebrauch!”, schreit ein Schild am Zaun des Fliegerhorstes. Es ist Montag Morgen. 6:30 Uhr. Wachwechsel für die Soldaten des 702. Munition Support Squadron, der einzigen Spezialeinheit für Atomwaffen, die in Deutschland stationiert ist. Offiziell gibt es die 702. MUNSS hier nicht. Stars and Stripes flattern im Wind neben der deutschen Fahne. Untrügliches Zeichen amerikanischer Präsenz. Das Kreischen eines startenden Düsentriebwerks zerreißt plötzlich die morgendliche Stille. Ich blicke eingeschüchtert in den Himmel.


Tornado-Kampfbomber der Bundeswehr © Public Domain
Ein Tornado-Kampfbomber hebt zum Übungsflug ab. Unter seinen Tragflächen sind neben den Tanks längliche Attrappen der B61-Bomben sichtbar.
In einigen Minuten wird der Pilot irgendwo über der Eifel seine Last abwerfen. 


Im Ernstfall könnte der Pilot der nuklearen Schockwelle nicht entkommen. Nach meiner Odyssee durch die Eifel ist mir nun klar, dass die Atombomben in Büchel lagern, auch wenn es von offizieller Seite dementiert wird. Wahrscheinlich wird keine Regierungspartei in diesem Land dafür sorgen, dass die Nuklearwaffen aus Deutschland verschwinden. Dabei könnte es so einfach sein: Die Bundesregierung müsste dem Weißen Haus in Washington, DC nur signalisieren, dass die Bomben abgezogen werden sollen. Denn es ist allein der Wille der Bundesregierung, dass die Waffen hier lagern – und nicht der Wille der amerikanischen Regierung. Sollte es durch einen Unfall oder islamistische Terroristen in unserem Land zu einer nuklearen Katastrophe kommen, existiert kein Notfallplan. Es ist Zeit zu handeln.

Anmerkung: Die Namen der Befragten wurden aus Personenschutzgründen verändert und abgekürzt.

© Daniel Gerritzen



Mittwoch, 19. November 2014

Über Mut und Angst

„Warum hinauf?”
Auf der Leinwand des Kongresszentrums Bochum erscheinen diese zwei Worte, die Reinhold Messner vor über fünf Jahrzehnten in ein Notizbuch geschrieben hat. Offensichtlich hat er sich damals gefragt, warum er sich überhaupt den Strapazen einer Bergbesteigung aussetzen soll. Der Mann, der alle vierzehn Achttausender ohne Flaschensauerstoff bestiegen, die Wüste Gobi, Grönland und auch die Antarktis zu Fuß durchquert hat, muss inzwischen eine Antwort auf diese Frage gefunden haben. Doch er gibt sie zwischen den Zeilen. Während ich seinem Vortrag lausche, ist mir die Antwort nicht klar. Denn eine Bergbesteigung ist nicht lebensnotwendig, daher also eigentlich ziemlicher Blödsinn. Messner spricht über die Angst, die ihn befällt, wenn er eine Bergwand erklimmt, etwa in den Dolomithen oder am Nangar Parbat im Westhimalaya. Die Angst, einen Berg zu besteigen, um dann durch Unachtsamkeit abzustürzen, unter einer Lawine begraben zu werden – oder schlicht zu erfrieren. „Wir besteigen Berge, um nicht dort umzukommen, wo Menschen umkommen.”


Reinhold Messner © Daniel Gerritzen
Reinhold Messner wandelte bei der Besteigung eines Berges oder der Durchquerung der Antarktis stets auf einem rasiermesserscharfen Grat zwischen Leben und Tod. Je höher er stieg oder je weiter er ging, umso „toter” war er eigentlich als Lebender. Er war stets umgeben von einer Aura des plötzlichen Todes. Messner wusste, dass die Besteigung eines Berges den sicheren Tod bringen kann (zwei Brüder hat er verloren). Messner versuchte, so lange und so gut es ging, dem Tod zu entkommen. Er versuchte, sich durch seine Ausdauer und seine Geschicklichkeit der hohen Wahrscheinlichkeit zu widersetzen, abzustürzen. Das schlimmste, das einem Bergsteiger also passieren kann, ist es, von der Angst gelähmt zu werden, es doch nicht bis zum Gipfel zu schaffen und dadurch zu sterben. Wenn ein Bergsteiger Zweifel hat, eine Wand oder einen Berg nicht bezwingen zu können, sollte er es einfach sein lassen. So wie Reinhold Messner, der es vorzog, die Nordwand des 1344 Meter hohen Ben Nevis – des höchsten Berges von Großbritannien – nicht hochzuklettern. Während Messner über die Einstellung zu seinen Ängsten referiert, schweifen meine Gedanken ab.

6. August 1996. Schottland. Fort William. Mein Freund Emile und ich spinnen davon, den Ben Nevis zu besteigen, nachdem wir ein junges Paar aus Portugal befragen, das von der grandiosen Aussicht dort oben schwärmt.
Mein Problem: Ich habe nur Straßenschuhe dabei. Und auch sonst bin ich nicht sonderlich trainiert. Außerdem ist Schottland für seine exzellenten Biere bekannt, die wir in den letzten Tagen ausgiebig probiert haben. Von unserem Zeltplatz aus können wir durch das Fernglas sehen, wie mit Rucksäcken bepackte Touristen den Berg hinaufsteigen. Jetzt taucht ein Hubschrauber der Bergwacht mit lautem Knattern auf. Wir erfahren, dass Ben Nevis als „the venomous one”, der „Böse” verschrien ist. Denn jedes Jahr sterben dort oben statistisch gesehen neun Menschen. Der Grund: falsches Schuhwerk, Selbstüberschätzung der eigenen körperlichen Fähigkeiten, unzureichender Proviant, Schwächeanfälle, blitzartig hereinbrechende Schlechtwetterfronten.
„Offensichtlich ist wieder jemand abgestürzt”, sage ich zu Emile. „Sonst würde die Bergwacht nicht fliegen.”
Emile zuckt die Achseln. „Wir müssen ja nicht abstürzen.”
Mir bleibt das Lachen im Hals stecken.

Wir machen uns am nächsten Morgen nach einem ausführlichen schottischen Frühstück mit Eiern, Speck und Bohnen auf den Weg. Im Gepäck sind Sandwiches, Mars-Riegel und Wasserflaschen. Aber nicht nur mein Kumpel Emile begleitet mich – auch ein Gefühl der undefinierbaren Angst in meinem Bauch, dass „The Venemous one” auch böse auf mich sein könnte. Dass ich einen Kreislaufkollaps bekommen oder mit den glatten Sohlen meiner schwarzen Straßenschuhe abrutschen, tief stürzen und sterben könnte.
„Ich bin verrückt, dass ich das mache!”, denke ich.
Niemand zwingt mich dazu.Während des Aufstiegs geht mir die Tatsache nicht aus dem Kopf, dass Reinhold Messner den Ben Nevis stets vermieden hat. Während wir Naturstufen aus Steinbrocken hinaufsteigen und alle paar hundert Meter Halt machen müssen, um zu verschnaufen, spüre ich, wie meine Unsicherheit, die Angst, einen Fehler zu machen, Überhand nimmt. Also versuche ich mich zu konzentrieren. Ich versuche, durch die Anstrengung meine Sinne zu schärfen.

Aber immer wieder rutsche ich ab, knicke beinahe um. Auf halber Höhe erreichen wir den Sattel. Wir erahnen durch ein Loch in der Nebelwand winzige Punkte unten auf dem Zeltplatz von Fort William. Das Wasser ist bereits ausgegangen. Zum Glück finden wir einen Gebirgsbach und füllen die Flaschen mit eiskaltem Wasser nach. Mir bereitet die Waschküche um uns herum Sorgen. Ben Nevis ist berüchtigt für seine plötzlichen Temperaturstürze, die unberechenbaren böigen Winde. Uns raubt die rauhe Schönheit eines Sees auf dem Bergsattel den Atem. Aber die Erkenntnis, dass wir nach zwei Stunden des Aufstiegs weniger als die Hälfte hinter uns haben, entmutigt mich. Jetzt überkommen mich verstärkt Zweifel über den Sinn des Unternehmens. Ich bleibe stehen, wie ein streikender Esel. „Warum soll ich da hoch?”, maule ich.


Ben Nevis © Public Domain
Ich frage mich, wer die Idee hatte, den Ben Nevis zu besteigen. In diesem Moment bin ich mir sicher, dass ich es nicht war. Eigentlich hatte es keiner von uns beiden ausgesprochen. Es war eher so etwas wie: „Man könnte ja mal...”
Aus einer Eventualität wurde Wirklichkeit. Reinhold Messner nennt das: Aus einem Projekt eine Wirklichkeit schaffen.
„Du kannst gerne umkehren”, sagt Emile. Sein Gesicht zeigt erste Anzeichen von Erschöpfung.
„Und Du?”, frage ich.
„Ich gehe allein weiter bis zum Gipfel.”
Eine Antwort, warum ich den Berg hinaufsteige, habe ich immer noch nicht gefunden.
„Warum mache ich diese Scheiße hier überhaupt?”, murmele ich. „Warum bringe ich mich in Gefahr?”
Ich gehe auch weiter. Aus irgendeinem unbekannten Antrieb.

Nach vier Stunden windet sich der „Weg” durch Geröllfelder hinauf zum Gipfel. Meine Beine fühlen sich wie Pudding an. Die Zehen schmerzen. Ich könnte schwören, dass ich Blasen an den Fersen habe. Als ich einen englischen Gentleman, der uns von oben mit einem Lächeln auf dem Gesicht entgegen kommt, frage, wie weit es bis zum Gipfel ist, sagt er: „Nur noch vier weitere Kehren.”
„Ermutigend”, japse ich mit erstickter Stimme.
Er lacht. „Oben ist strahlendster Sonnenschein. Der Aufstieg lohnt sich.”
Wir kämpfen uns weiter hoch. Wir werden immer langsamer. Mir ist nach Kriechen zumute.

Kurz vor dem Gipfel sind meine Beine so schwach, dass ich immer wieder abrutsche und beinahe hinfalle. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Aber dann durchbricht die Sonne den Nebel. Mehrere hundert Meter weiter – und etwa eine halbe Stunde später – erblicke ich eine Steinhütte und einige Geröllhaufen. Als wir die Steinhütte erreichen, lese ich, dass der Erstbesteiger des Mount Everest, Sir Edmond Hillary, den Ben Nevis als Trainingsberg benutzte. Und ich sehe einen Mann im Trainingsanzug, der offenbar hier hochgejoggt ist. Ich will einfach nur losheulen, aber es kommen keine Tränen.
„Trainingsberg?”, keuche ich.
„Wir sind da!”, sagt Emile und schaut auf die Uhr. „Nach fünf Stunden haben wir es geschafft und unseren inneren Schweinehund überwunden. Das ist das wichtigste.”
Meine Angst ist verschwunden. Der Wille, den Berg hinaufzusteigen, hat meine Furcht vor dem Tod bezwungen.
Ich kann nur noch nicken. Ich fühle keine Euphorie, denn ich bin zu erschöpft.
Nach einer halben Stunde Pause machen wir uns auf den Weg hinunter. Das Abbremsen ist noch anstrengender als der Aufstieg. Nach drei Stunden Abstieg erklingt unten im Tal eine schöne Dudelsackmelodie. Jetzt scheint auch hier unten die Sonne.
Ich kann endlich heulen.

Die Stimme Reinhold Messners reißt mich aus meinen Erinnerungen. Er spricht davon, dass Mut und Angst zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Ohne Angst kein Mut, ohne Mut keine Angst. Angst ist notwendig für das Überleben – selbst für einen solch erfahrenen Bergsteiger wie ihn. Besonders wichtig für ihn ist es, seine Ängste mit anderen Bergsteigern zu teilen. Um alle vierzehn Achttausender zu besteigen oder die Antarktis zu durchqueren, musste Messner erst den Mut entwickeln, sich seinen größten Ängsten zu stellen und auch darüber sprechen zu können.


Reinhold Messner und Dan Gerritzen
© Thorsten Stadtler
„Warum hinauf?”
Achtzehn Jahre nach meinem Ben Nevis-Aufstieg weiß ich es plötzlich. Die Antwort lautet: um im Leben durchzuhalten. Und um den Mut zu finden, mich meinen größten Ängsten zu stellen.

Am Buchstand kaufe ich Reinhold Messners Autobiographie „Überleben” und lasse sie mir von ihm signieren. Dann danke ich ihm herzlich für die Erkenntnis. Und wünsche ihm alles Gute.

© Daniel Gerritzen

Mittwoch, 29. Oktober 2014

Die Angst vor den unbewussten Dämonen

Ich teile mit Stephen King ein unheimliches Schicksal. Am 19. Juni 1999 wurde King an der Route 5 in Maine durch den Fahrer eines Kleinbusses, der durch seinen Hund abgelenkt wurde, von hinten angefahren. King wurde mehrere Meter weit geschleudert und landete im Straßengraben. Die Verletzungen waren so schwer, dass King mit einem Hubschrauber ins Central Maine Medical Center in Lewiston geflogen werden musste. Seine rechte Lunge kollabierte, eine Hüfte und das rechte Bein wiesen mehrfache, komplizierte Brüche auf und die Kopfhaut war von Platzwunden übersät. King wäre fast gestorben. Er musste innerhalb von zehn Tagen fünf Operationen über sich ergehen lassen. Der ursprüngliche Plan der Chirurgen, Kings rechtes Bein aufgrund der schweren Brüche zu amputieren, wurde jedoch durch die Anwendung eines äußeren Haltesystems verworfen. Die Physiotherapie dauerte mehrere Monate. Die Schmerzen waren so unerträglich, dass King viele Monate nicht schreiben konnte. Der Fahrer, Bryan Smith, starb am 21. September 2000, Stephen Kings Geburtstag.

Die Landung der Alliierten am Omaha Beach
in der Normandie am 6. Juni 1944
© Robert F. Sargent
Auch meine Schmerzen waren unerträglich, als ich am Morgen des 6.6. 2006 – dem 62. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie – aus der Narkose aufwachte. Einen Tag vor der Operation hatte der Chefarzt der Chirurgie bei mir zwei Leistenbrüche sowohl auf der linken wie auf der rechten Seite diagnostiziert. Aber er hatte mir auch versichert: „Vor der Eröffnung der Fußball-WM sind Sie wieder aus dem Krankenhaus.”
Der Eingriff sollte minimalinvasiv mittels einer sogenannten Laparoskopie – also Bauchspiegelung – stattfinden. Dabei wird der Bauch mit Helium aufgepumpt, um einen Hohlraum zu schaffen. Der Chirurg nimmt dann außen kleine Schnitte vor, führt das schlauchartige Laparoskop am unteren Bauch ein und operiert mittels kleiner Zangenenden, die er von außen mit pistolenartigen Griffen kontrollieren kann. Bei dem Vorgang sollten die Bruchpforten der Leisten mit Kunststoffnetzen stabilisiert und diese mit Titanclips am Gewebe befestigt werden. Soweit die Theorie.

Die Praxis sah jedoch anders aus. Die Schwester im Aufwachraum erzählte mir, dass ich während der Operation unter der Vollnarkose gesprochen hätte. Auf meine schlaftrunkene Frage, was ich gesagt hätte, erklärte sie: „Sie sprachen von einem Strand. Von Omaha Beach”. Zufälligerweise war ich zwei Monate vor der Operation in die Normandie gereist und hatte mir Omaha Beach angesehen, jenen Strand, an dem tausende alliierte Soldaten durch das gnadenlose Maschinengewehrfeuer der Deutschen starben. Normalerweise erinnern sich Menschen an nichts, wenn sie unter Vollnarkose operiert werden. Sie empfinden eine Bewusstlosigkeit, die einer todesähnlichen Schwärze gleicht.
Doch ich erinnere mich an eine Art „Traum”. In diesem Traum stehe ich am
D-Day mit anderen amerikanischen Soldaten in einem Landungsboot. Ich warte darauf, in das tödliche Gewehrfeuer der deutschen Wehrmacht am Omaha Beach zu stolpern. Das Tor des Landungsbootes öffnet sich. Hunderte, tausende Schüsse peitschen auf uns ein. Schreie. Blut spritzt. Gehirnmasse landet auf meiner Uniform. Meine Kameraden um mich herum sterben. Ich wate durch das kalte Wasser. Ich halte zitternd das Gewehr über meinem Kopf. Dann werde auch ich von einer Kugel getroffen. Mein Bein! Der Schmerz raubt mir den Verstand. Ich knicke ein. Ich falle ins blutige Wasser. Und wache auf.

Mein erster Gedanke war: „Ich habe überlebt!”
Nachdem ich mich im Krankenzimmer nach zwei Stunden Erholungsschlaf wachblinzelte, forderte mich eine Schwester auf, aufzustehen und einige Schritte zu gehen. Also stand ich auf und versuchte zu gehen. Zu meiner Überraschung knickte ich ein. Ich landete unsanft auf dem Boden. Ich wollte mich wieder aufrichten. Doch ich knickte wieder ein. Jetzt erkannte ich zu meiner großen Beunruhigung, dass mein linkes Bein völlig kraftlos und taub war. Dennoch spürte ich peitschenhiebartige Schmerzen, so als ob jemand mit voller Wucht glühend heiße Metalldrähte immer wieder im Sekundentakt über mein Knie schlug. Eiligst herbeigerufene Experten diagnostizierten eine Beschädigung des Nervus Femoralis, jenes Nervs, der die Impulse an die Muskeln des Beins weiterleitet und mit Kraft versorgt. Meine Befürchtung war, dass der Chirurg die Titanclips, die normalerweise die Kunststoffnetze um die Bruchpforte des Leistenbruchs befestigen, dort fixiert hatte, wo sich der Nervus Femoralis befindet. In anderen Worten, der Chirurg hatte durch seine Unfähigkeit den Nerv abgeklemmt. Die Folge: totale Lähmung des linken Beins. Ohne Krücken konnte ich nicht mehr gehen. Die Folge waren häufige Stürze und Verstauchungen.

Peng! Ich war getroffen worden. Es hatte mich erwischt. Der Schuss aus dem Paralleluniversum an Omaha Beach traf mich anscheinend in der Wirklichkeit. Ich war unfreiwillig zum letzten Veteran des D-Day geworden. Als die Fußball-WM eröffnet wurde, sollte ich noch drei Wochen Krankenhausaufenthalt vor mir haben – und mehrere Monate Physiotherapie.

Ein herbeizitierter Neurologe stach spitze Nadeln in mein Bein, um zu testen, wo die Taubheit anfing und wo sie endete. Sie fing am unteren Bauch an und endete im kleinen Zeh. Man hätte das Bein absägen und amputieren können, ohne, dass ich es bemerkt hätte. Die Schmerzen im Knie wurden mit einem Epilepsie-Medikament behandelt, das mich durch Bewusstseinsausfälle beinahe ins Jenseits beförderte. Eine Odyssee durch diverse Praxen arroganter Ärzte trieb mich zur Verzweiflung. Schnell wurde mir klar, dass ich handeln musste. Ich musste Informationen sammeln, wer für diesen Kunstfehler verantwortlich war. Ich forderte den Operationsbericht an, aus dem jedoch – natürlich – keine Anomalie hervorging. Der Operationsvorgang war von dem Chirurgen angeblich fehlerfrei durchgeführt worden. „Eine schicksalhafte Begebenheit” hieß es. Und das, obwohl ich vorher noch wunderbar laufen konnte. Als mich die Schmerzen und die ausbleibende Verbesserung meines Gesundheitszustands an den Rand des Wahnsinns trieben, beschloss ich, einen Anwalt zu nehmen. Ich musste mich wehren.

Zwei Jahre später ging der Fall vor Gericht – auf dem Höhepunkt einer frustrierenden Schlammschlacht zwischen dem Krankenhaus, mir und meinem Anwalt. Vor Gericht erschien nicht der eigentliche Gutachter, sondern seine Stellvertreterin. Man teilte uns mit, dass der Gutachter, der selbst Chirurg war, während einer von ihm durchgeführten Operation plötzlich und unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben sei. Der tote Gutachter sei jedoch der Auffassung gewesen, dass in meinem Fall kein Kunstfehler vorliege. Warum denn der Chirurg, der mir dieses ganze Ungemach eingebrockt hatte, nicht vorgeladen und im Gerichtssaal anwesend sei, wollte ich wissen. Ich wollte dem Typen in die Augen sehen. Ich wollte ihm zeigen, was er angerichtet hatte. Dass er mir Schmerzen, die bis heute andauern und ein bis heute nur eingeschränkt funktionierendes Bein beschert hatte. Die Antwort war, dass der Chirurg sehr schnell durch eine besonders aggressive Form von Nierenkrebs dahingerafft worden sei. Beide Männer starben zeitversetzt um ein Jahr jeweils um dieselbe Zeit.

Peng! Peng!
Jetzt waren zwei Männer tödlich getroffen worden. Das Schicksal – oder was auch immer – hatte durchgeladen und zweimal auf diese beiden Burschen geschossen. Ich hingegen war „nur” schwer verwundet. Da erschien er wieder vor meinen geistigen Augen: der Strand, Omaha Beach, an jenem grausigen D-Day.

In diesem Moment durchfluteten mich Wut, Trauer – und blanke Angst. Weder dem Gutachter, der nicht zu meinen Gunsten urteilte, noch dem Chirurgen, der den fatalen Kunstfehler begangen hatte, wünschte ich den Tod. Ich war manchmal sehr wütend auf sie gewesen, vielleicht sogar gelegentlich hasserfüllt. Jeder Mensch, dem dieses Grauen wiederfährt, hätte ähnlich empfunden. Aber ich wünschte diesen Ärzten nicht den Tod. Genauso muss Stephen King empfunden haben, als er vom Tod des Unfallfahrers erfuhr. Die Frage, die mich – und Stephen King sicher auch – beschäftigt, ist, ob es Kräfte der menschlichen Psyche gibt, von denen wir nicht wissen, wie sie funktionieren und die sich irgendwie unbewusst entladen. Stephen King hat häufig darüber geschrieben in seinen Romanen Carrie, Shining, Feuerkind oder Dead Zone.

Meine Verzweiflung und die Verzweiflung Stephen Kings haben vielleicht Dinge in Gang gesetzt, die ich und King nicht unter Kontrolle hatten. Das deckt sich mit den Forschungsergebnissen der modernen Psychologie, die festgestellt hat, dass anomalistische Phänomene spontan und abseits der wissenschaftlichen Reproduzierbarkeit auftreten. Psychologen bezeichnen das als sogenannte „Externalisierung” von psychischem Stress.
Seit meinen Erlebnissen frage ich mich daher: Wer bin ich, der durch den Vorfall vom 6.6.2006 mit dem Tod von zwei Medizinern verbunden ist? Rächte sich mein Unterbewusstsein in Gestalt einer wilden Externalisierung meiner Verzweiflung an ihnen? Oder ist alles nur Zufall, so wie der Tod des Unfallfahrers an Stephen Kings Geburtstag vielleicht nur Zufall war?

Ich verlor den Prozess. Ich erhielt keinen Cent Schmerzensgeld. Monate später musste ich wegen eines erneuten Leistenbruchs operiert werden. Die Netze, die mir der verstorbene Chirurg implantiert hatte, waren gerissen. All der Ärger war umsonst gewesen. Die Operation wurde in einem anderen Krankenhaus erfolgreich durchgeführt. Dort stellte man fest, dass die Titanclips von dem verstorbenen Chirurgen unfachmännisch befestigt und der Nerv
dadurch abgeklemmt worden war. Meine Wut und die Schmerzen blieben jedoch.

Seit diesen Ereignissen habe ich gelegentlich Angst vor mir selbst – so wie auch Stephen King wahrscheinlich die Poltergeister in seinem Unterbewusstsein fürchtet, die er nicht kontrollieren kann. Über das Grauen zu schreiben ist jedoch für ihn – wie für mich – ein gewisser Trost. Es ist ein Kanal, um die Angst vor den unbewussten Dämonen in Schach zu halten. Die Frage ist, wann seine und meine Dämonen sich wieder externalisieren und ausbrechen.

© Daniel Gerritzen

Montag, 27. Oktober 2014

Gott als Konstrukt der Angst

1.

Jeder Mensch fragt sich, ob es einen Gott gibt, der die menschliche Geschichte lenkt. Ist alles nur Zufall? Oder von Gott vorherbestimmt?

In seiner brillianten Kurzgeschichte Ferner Donner beschreibt der amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury, wie der Teilnehmer einer Zeitreise-Safari in die Ära der Dinosaurier reist und aus Versehen einen Schmetterling tötet. Weil der Schmetterling in der Nahrungskette fehlt, setzt ein Effekt ein, der sich von der Urzeit bis heute schockwellenartig fortpflanzt. Die Folge: Die Gegenwart verändert sich. Anstelle eines Demokraten wird ein faschistoider Diktator ins Weiße Haus gewählt. Manche Diktatoren glauben heute noch an die göttliche Vorsehung. Sie sind davon überzeugt, von Gott auserwählt worden zu sein, um persönlich eine Aufgabe zum Wohl der Menschheit auszuführen – wenn nötig mit brutalsten Mitteln. Adolf Hitler ging so vor.

Die Frage, die sich für uns daher stellt, ist: War Hitler ein grausames Werkzeug Gottes, um die Geschichte „zugunsten” seines auserwählten Volkes Israels zu steuern? Wäre der Staat Israel niemals ohne den Holocaust entstanden? Ist also Gott, wenn er existiert, ein allmächtiger Herrscher über die Geschichte, wie es Islam, Christentum und Judentum zu glauben vorlegen? 

Die Geschichte der Menschheit von 1933 bis 1945 sagt uns, was Gott ist. Die Antwort ist nicht angenehm.

2.

Das wichtigste Ereignis der biblischen Überlieferung finden wir im 2. Buch Mose geschildert: dem Buch Exodus. Gott übergibt Mose nach der Befreiung des Volkes Israels aus der Knechtschaft des ägyptischen Pharaos auf dem Berg Sinai die Zehn Gebote: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben, du sollst dir kein Gottesbild machen, du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen, du sollst nicht morden, nicht ehebrechen, nicht stehlen ...
Doch Gott geht noch weiter. Gott schließt mit Mose einen Bund: „Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.“ Gottes Worte sind Drohungen. Wer seinen Worten nicht Folge leistet, wird über viele Generationen hinweg von ihm bestraft. Sogar mit dem Tod.

Moses mit den Zehn Geboten
Gemälde von Rembrandt
© Public Domain
Von diesem Zeitpunkt an scheint das dramatische Schicksal des jüdischen Volkes besiegelt. Es ist ein auserwähltes Volk. Es sind beeindruckende Naturphänomene, in denen die Bibel Gottes Erscheinen vor seinem Volk darstellt, über siebzig an der Zahl. Das Metaphysische bricht mit aller Macht über den Nahen Osten herein. Nun drängt sich aber folgende Frage auf: Wenn Gott immer wieder dem Volk Israel erschien, warum erscheint er heute nicht mehr in brennenden Dornenbüschen, in Feuersäulen, begegnet in einem Meer, das sich allen Naturgesetzen spottend teilt, in Wunderheilungen eines Mannes, von dem es heißt, dass er über Wasser gehen und selbst Tote auferwecken kann? Wo begegnet das Übernatürlich-göttliche in der Welt der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit in einem Universum, das von Naturwissenschaftlern bis in die entferntesten Winkel erforscht und erklärt wird? Krasser formuliert: Wo war Gott, als in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern das Volk seines Bundes in den Gaskammern ermordet wurde? Warum blieb das göttliche Wunder aus?

3.
Albert Einstein glaubte an die Vorsehung. „An Freiheit des Menschen im philosophischen Sinne glaube ich keineswegs.”, schrieb Einstein in seinem Buch Mein Weltbild. Seinem Freund, dem Quantenphysiker Max Born, gestand er, dass er überzeugter Determinist sei. Der Wille des Menschen wäre nicht frei, sondern unterläge den göttlichen Gesetzen des Universums. Einstein hielt bis zu seinem Tod standhaft am Determinismus fest: „Alles ist vorherbestimmt. Anfang wie Ende, durch Kräfte, über die wir keine Gewalt haben. Es ist voherbestimmt für Insekt nicht anders wie für Stern. Die menschlichen Wesen, Pflanzen oder der Staub, wir alle tanzen nach einer geheimnisvollen Melodie, die ein unsichtbarer Spieler in den Fernen des Weltalls anstimmt.”

Albert Einstein © Public Domain
Einsteins Auffassung konnten auch die bahnbrechenden Erkenntnisse u.a. der Physiker Werner Heisenberg, Erwin Schrödinger und Nils Bohr nicht ändern, die mit der Formulierung einer Theorie zur Mechanik der Quanten, also der kleinsten Teilchen des Universums, das Weltbild der Physik auf ähnlich dramatische Weise revolutionierten wie Einstein selbst mit seiner speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie. Die sogenannte Heisenbergsche Unschärferelation besagt, dass es für einen Beobachter unmöglich ist, gleichzeitig die exakte Position und den Impuls eines Teilchens zu messen. Heisenberg folgerte aus seinen Berechnungen, dass kein quantenphysikalischer Zustand im Universum vorhergesagt werden kann – daher wäre kein Ereignis in der Zukunft gewiss oder determiniert. Einstein wollte das nicht glauben. Ihm war immer eine besondere Religiösität zu eigen, die eine vorhersehende Kraft in sein physikalisches Weltbild mit einbezog. Er war so ernüchtert über die neuesten Erkenntnisse der Quantenmechanik, dass er Max Born 1926 in einem Brief mitteilte, er glaube nicht, dass „der Alte” würfele, auch wenn er nicht an einen persönlichen Gott glaubte.



Einstein muss folgende Tatsache geflissentlich übersehen haben: Wenn jedes Ereignis in dieser Geschichte des Universums vorherbestimmt und nicht zufällig ist, wäre der Wille des Menschen nicht frei, wie Einstein glaubte. Daher wäre die Geschichte des Universums seit ihren Anfängen vor 13,7 Milliarden Jahren bis zum heutigen Tag bis auf das kleinste Ereignis vorherbestimmt und festgelegt. Was wie ein zufälliges Ereignis erschiene, wäre Vorhersehung – unabhängig von seiner Grauenhaftigkeit. Zum „Zeitpunkt” des Urknalls müsste also etwas, nennen wir es „Gott”, bereits die Geburt eines gewissen Adolf Hitler geplant haben, der später von sich behaupten sollte, vom „Allmächtigen” höchstpersönlich auserkoren zu sein, ausgerechnet das jüdische Volk zu vernichten. Jenes Volk, mit dem Gott über 13 Milliarden Jahre später im 2. Buch Mose seinen Bund schließen würde. Kann ein liebender Gott für sein auserwähltes Volk ein solch grausames, unabwendbares Schicksal vorherbestimmt haben?

4.
Auch Adolf Hitler glaubte an die Vorsehung. In seiner luxuriösen Zuchthauszelle von Landsberg diktiert er seinem Sekretär und späteren Stellvertreter Rudolf Hess: „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: In dem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.”
Dieser Irrsinn erscheint im Juli 1925 in seinem Buch Mein Kampf – Eine Abrechnung im Verlag Eher der NSDAP. Die Veröffentlichung wird durch die großzügige finanzielle Unterstützung reicher Parteigenossen möglich. Bis zum Jahr 1933, als Hitler zum Reichskanzler gewählt wird, werden mehr als 287.000 Exemplare des Buchs verkauft. Aus heutiger Sicht ein Bestseller. Im Jahre 1943 ist im Impressum des Buchs die Zahl von 10.240.000 Exemplaren vermerkt. Doch anscheinend hatten nur wenige Deutsche das Buch gelesen. Wenn doch, so hatte die deutsche Bevölkerung Hitlers Pläne bis zum 9. November 1938, der Reichspogromnacht, nicht ernst genommen.

Einstein jedenfalls beschließt, keinen Augenblick mehr zu zögern. Er hat Hitlers mörderisches Spiel durchschaut. Einstein gibt seinen deutschen Pass ab und tritt von allen Ämtern an der preußischen Akademie der Wissenschaften zurück. Im Dezember 1932 besteigt er in Antwerpen ein Schiff nach Los Angeles, um eine Vortragsreise anzutreten. Er sollte nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden setzen. „Ich kann die Passivität nicht verstehen, mit der die ganze zivilisierte Welt auf diese moderne Barbarei reagiert. Sieht die Welt nicht, dass Hitler den Krieg zum Ziel hat?”, sagt Einstein im Oktober 1933.
Niemand in Deutschland muss zu diesem Zeitpunkt so genial sein wie Albert Einstein, um zu erkennen, dass Adolf Hitler, wie er es in seinem Buch Mein Kampf angekündigt hatte, die Juden auf diesem Planeten auszurotten gedenkt.

5.

Und das, was Hitler für den „Allmächtigen” hält, scheint ihm wohlgesonnen zu sein. Denn Hitlers Machtergreifung gelingt erstaunlich reibungslos: General
Paul von Hindenburg ernennt Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler.
Am 27. Februar 1933 brennt der Reichstag. Hitler nutzt die Gunst der Stunde, um diesen wahrscheinlich von der SA inszenierten Anschlag den Kommunisten anzulasten, die er mit seiner „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat” massenweise verhaften und deportieren lässt. Am 23. März 1933 verabschiedet der Reichstag das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich”, das „Ermächtigungsgesetz”. Am 2. August 1934 vereint Hitler das Präsidentenamt mit dem Amt des Reichskanzlers und lässt die Streitkräfte auf seinen Oberbefehl vereidigen – somit kann Hitler ohne das Parlament regieren, neue Gesetze und „Führerbefehle” erlassen, die seine Macht unangreifbar machen.

Seit seinem ersten gewaltsamen Putschversuch am 9. November 1923 und dem Marsch auf Berlin, sind nur knapp zehn Jahre vergangen. Hitler hat auf „legalem” Wege die exekutive Macht und die totale Kontrolle über das deutsche Volk an sich gerissen. Im Ausland reagiert man nicht gerade mit Panik, als am 10. Mai 1933 die Werke von jüdischen und oppositionellen Intellektuellen in Berlin öffentlich verbrannt werden. Man beobachtet die Vorgänge zwar mit Argwohn, sieht aber keinen Grund zu handeln. Die Sozialdemokraten werden verboten und verfolgt, die Gewerkschaften aufgelöst, Presse und Rundfunk durch das Reichspropagandaministerium von Joseph Goebbels gleichgeschaltet. Die Verbreitung des Volksempfängers ermöglicht dem NS-Regime den Deutschen per Rundfunk den Judenhass einzutrichtern: Der „Führer” erlässt am 15. September 1935 die Nürnberger Rassengesetze, denen zufolge Juden nur noch „Untermenschen” sind. Diese fatale Entwicklung gipfelt vorläufig am
9. November 1938 in der Reichspogromnacht. In ganz Deutschland werden mehr als 90 Juden getötet, Hunderte von Synagogen in Brand gesteckt, jüdische Geschäfte geplündert und zertrümmert. 20.000 Juden werden danach in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen deportiert.



Ungarische Juden werden in Auschwitz-Birkenau
unmittelbar nach ihrer Ankunft für die Gaskammer
ausselektiert. © Public Domain
Am 1. September 1939 überfällt Nazi-Deutschland Polen und beginnt somit den Zweiten Weltkrieg. Hitlers Feldzug gegen die Juden in Osteuropa hat begonnen. England und Frankreich erklären Deutschland den Krieg. Am 22. Juni 1941 lässt Hitler Russland ohne Vorwarnung überfallen und „kündigt” somit den Nichtangriffspakt mit Stalin. Heinrich Himmlers Einsatzgruppen der SS richten in Osteuropa Massaker an Millionen Menschen an. Es kommt zu Exzessen barbarischster Gewalt, die jegliches menschliche Vorstellungsvermögen übersteigen. Als Einstein von der Judenvernichtung erfährt, sagt er 1944 in seinem Nachruf auf die Helden des Warschauer Ghettos: „Die Deutschen als ganzes Volk sind für diese Massenmorde verantwortlich und müssen als Volk dafür gestraft werden ... Hinter der Nazipartei steht das deutsche Volk, das Hitler gewählt hat, nachdem er ihm seine schändlichen Absichten in nicht misszuverstehender Form in seinem Buche und seinen Reden allgemein bekanntgemacht hatte.”

Am 20. Januar 1942 diskutieren fünfzehn Männer in einer Villa am Ufer des Berliner Wannsees die Zukunft der europäischen Juden – zu einem Zeitpunkt als der Genozid bereits in vollem Gange ist und die Deutsche Reichsbahn Hunderttausende Juden über die Schienenwege nach Auschwitz und in andere Todeslager transportiert. Im Protokoll der Wannseekonferenz heißt diese Endlösung offiziell noch „Verlagerung der Juden nach dem Osten”. Inoffiziell handelt es sich dabei um die industrialisierte Vernichtung eines ganzen Volkes. Allein im Monat August des Jahres 1943 werden 400.000 ungarische Juden in Auschwitz vergast. Tausende Kleinkinder werden bei lebendigem Leib in die brennenden Öfen geworfen, um Gas zu sparen. Von 1938 bis 1945 werden mehr als sechs Millionen Juden ermordet, allein 1,1 Millionen in Auschwitz-Birkenau. Der Holocaust, die Hölle auf Erden.

6.

Wir kehren nach diesem historischen Exkurs zu unserer Ausgangsfrage zurück. Offensichtlich gibt es keine Spur eines göttlichen Eingreifens in der Zeit von 1933 bis 1945. Dabei wäre es für Gott unproblematisch gewesen, die Geschichte der Menschheit auch unauffällig zu beeinflussen, so dass ein Holocaust niemals stattgefunden hätte. Noch frustrierender wird es, wenn wir uns die versäumten Chancen Gottes ansehen:

 Ein Gott der Geschichte hätte verhindern können, dass Hitlers Mutter Klara Pölzl ihren Ehemann, den Zollbeamten Alois Hiedler, kennenlernt. Adolf Hitler wäre nie am 20. April 1889 im österreichischen Braunau am Inn als viertes von sechs Kindern geboren. Nur Adolf Hitler und seine Schwester Paula überlebten das Kindesalter, die übrigen Geschwister starben sehr früh. Es hätte auch Hitler treffen können.



Hitler war ein durchschnittlicher bis schlechter, aber vor allem fauler Schüler.
Er träumte nach seiner erfolglosen Schulkarriere von einer Existenz als Kunstmaler, doch die Wiener Kunstakademie lehnte ihn mehrfach ab. In Mein Kampf berichtet Hitler später über diese Zeit der Ablehnung und sozialen Isolation: „... und was damals mir als Härte des Schicksals erschien, preise ich heute als Weisheit der Vorsehung.” Hier hätte Gott die Geschichte so manipulieren können, dass Hitler an der Kunstakademie angenommen wird. Die Welt hätte ihre Ruhe gehabt.

Die nächste Gelegenheit wäre gewesen, den „Führer” in den Selbstmord zu treiben, denn mit achtzehn Jahren verliebt sich Hitler im Linzer Vorort Urfahr unglücklich in die junge Stefanie Jansten, die sich nicht für ihn interessiert. Gegenüber seinem Freund, dem Pianisten August Kubizek, gesteht Hitler ein, dass er sich von einer Linzer Brücke in die Fluten der Donau zu stürzen gedenke. Hitler: „Ich halte es nicht mehr aus. Ich will Schluss machen!”
Er hat bereits einen detaillierten Selbstmordplan ausgearbeitet. Es soll jedoch anders kommen, denn als der erste Weltkrieg ausbricht, sagt Hitler irgendetwas, dass er „zu Höherem” berufen sei.

Hitler als Rekrut im 1. Weltkrieg
© Public Domain
Hitler meldet sich am 16. August 1914 freiwillig zur Armee und kommt in das 6. Rekruten-Ersatz-Bataillon des 2. bayerischen Infanterie-Regiments Nr. 16. Das Glück, das ihm hier wiederfährt, ist unheimlich. Am 28. Oktober 1914 entkommt Hitler um Haaresbreite dem Kugelhagel in den umkämpften Schützengräben bei Ypern, Belgien.
In einem Brief schreibt Hitler: „Mir reißt ein Schuss den ganzen rechten Rockärmel herunter. Aber wie durch ein Wunder bleibe ich gesund und heil ...”
Diese „Wunder” wiederholen sich. Mitte November 1914 entkommt Hitler einem verheerenden Granateneinschlag, der drei seiner Kameraden tötet, nachdem er ein Zelt verlassen hat, in dem eine Besprechung über die Verleihung von Tapferkeitsorden stattfinden soll. Am 25. September 1915 soll der Meldegänger Hitler die Gefechtstände über einen bevorstehenden Großangriff der Engländer informieren und entkommt britischem Dauerfeuer.

Zu einer anderen Gelegenheit befällt Hitler plötzlich ein merkwürdiges Gefühl. Dem Zeitungskorrespondenten Ward Price schildert Hitler später einen historisch verbürgten Vorfall: „Ich war mit mehreren Kameraden beim Mittagessen in unserem Graben. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als ob eine innere Stimme mir sagte: >Los, steh auf und verschwinde hier.< Ich glaube das so klar und nachdrücklich zu hören, dass ich mechanisch gehorchte, als wenn es ein militärischer Befehl gewesen wäre. Ich stand auf und ging im Graben zwanzig Meter weit weg; mein Mittagessen im Kochgeschirr nahm ich mit. Dann setzte ich mich hin und war beruhigt. Ich hatte kaum wieder angefangen zu essen, als aus dem Teil des Grabens, den ich eben verlassen hatte, eine ohrenbetäubende Detonation zu hören war. Eine verirrte Granate war genau dort eingeschlagen, wo ich mit den anderen Kameraden gegessen hatte. Sie waren alle tot.”

Auf Hitler wurden zweiundvierzig Attentate verübt. Manche dieser Mordversuche sind so sorgfältig geplant gewesen, dass sie eigentlich nicht misslingen konnten. So auch am 8. November 1939, als eine 20-Kilo-Bombe, versteckt in einer Säule hinter dem Rednerpult im Münchener Bürgerbräukeller, explodiert, acht Menschen tötet und dreiundsechzig verletzt. Der Attentäter, der Schreiner Georg Elser, wird noch am gleichen Abend während seines Fluchtversuchs in die Schweiz von der Grenzpolizei in Konstanz verhaftet. Hitler hatte 13 Minuten zu früh das Rednerpult verlassen, weil eine schlechte Wetterprognose ihn dazu bewogen hatte, statt mit dem Flugzeug mit dem Zug zurück nach Berlin zu fahren. Er kommt mit dem Schrecken davon. „Dass ich den Bürgerbräu früher als sonst verlassen habe, ist mir eine Bestätigung, dass die Vorsehung mich mein Ziel erreichen lassen will!”, deutet der „Führer” die glückliche Fügung wenige Stunden später.



Höhepunkt der Attentatsversuche ist der gescheiterte Versuch der Verschwörergruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg am 20. Juli 1944 in der ostpreußischen Wolfsschanze. Eine Aktentasche mit einer Bombe ist so ungeschickt unter dem Kartentisch positioniert, dass die Wucht der Explosion gedämpft wird und Hitler nur mit einigen Schrammen davonkommt. Mal ist Hitler zu sehr durch die SS abgeschirmt, mal zündet eine Bombe in einem Flugzeug nicht, mal verlässt Hitler aus unerfindlichen Gründen einen bestimmten Raum, in dem sich ein Attentäter mit ihm zusammen in die Luft sprengen will. Hitler scheint den sechsten Sinn gehabt zu haben – er konnte den Tod wohl wittern wie eine Hyäne das Aas.


7.
Keine Spur von einem göttlichen Eingreifen. Dabei hätte Gott, wie gerade gesehen, genug Gelegenheiten gehabt, Hitler vom Erdboden zu tilgen oder ihm gar nicht erst eine Existenz auf diesem Planeten zu ermöglichen. Um ganz sicherzugehen, dass niemals ein Adolf Hitler geboren wird, dessen Absicht es ist, irgendwann das jüdische Volk zu vernichten, hätte Gott die Geschichte der Menschheit so vorsehen können, dass sie stets anders verlaufen wäre.
Ein Gott der Geschichte hätte die Entstehung des Lebens auf der Erde oder gar die Entstehung des Universums verhindern können – denn er selbst wäre in seinem Schöpfungswillen frei. Doch das Universum existiert und in ihm eine Menschheit, deren Geschichte seit Jahrmillionen von Töten und Getötetwerden geprägt ist. War es also Gottes Wille, dass Hitler stets um Haaresbreite überlebte, um den Holocaust durchzuführen? Krasser: Ließ Gott sechs Millionen Juden in den Vernichtungslagern ermorden?

Eine absurde, wahnwitzige und gefährliche Vorstellung! Die Logik gebietet stattdessen eine rationale, aber erschreckende Denkweise: Gott verhindert das Leid auf der Erde nicht. Gott greift nicht in die Geschichte ein, weil er kein Gott der Geschichte ist. Kein Ereignis im Universum ist vorherbestimmt. Hitler war nicht durch den Allmächtigen auserwählt, das jüdische Volk zu vernichten und die Menschheit tanzt nicht nach einer geheimnisvollen Melodie, die ein unsichtbarer Spieler in der Ferne des Weltalls anstimmt, wie Einstein glaubte. Der Zufall und der freie Wille des Menschen regieren die Welt. Adolf Hitler hatte pures Glück, mit dem Leben davongekommen zu sein.

 Sechs Millionen Juden hatten dieses Glück nicht.

Aktuellsten historischen Forschungen zufolge hatte Hitler die Vernichtung von über 500.000 aus Deutschland nach Palästina geflohenen Juden durch ein Einsatzkommando unter Erwin Rommel beabsichtigt. Doch die schwere Niederlage Rommels in Ägypten gegen die von Feldmarschall Montgomery befehligten britischen Truppen vereitelte Hitlers Plan, die Judenvernichtung im Nahen Osten fortzusetzen. Es war nicht Gott, der die Ausweitung des Holocaust nach Palästina verhinderte, sondern Hitler selbst, der Gott die Arbeit abnahm, in dem er Russland angriff und damit die Wehrmacht entscheidend schwächte. So war es nur eine Frage der Zeit, bis Nazi-Deutschland kapitulierte und besiegt war. Das Prinzip von "Ursache" und "Wirkung" regiert also das Universum und nicht göttliche Interventionen.

Der Horror der Geschichte ist stets das Resultat der Aktivitäten von Menschen und nicht eines Gottes. Nach Sichtung der Fakten drängt sich die schmerzhafte Schlussfolgerung auf, dass es äußerst unwahrscheinlich ist, dass der biblische Gott Mose erschienen ist, und es ist ebenso unwahrscheinlich, dass Gott mit dem jüdischen Volk in einem Bundesverhältnis steht. Gott wäre demnach nur ein allzu menschlicher Schutzmechanismus, um spirituell über die monströseste Konstante des Universums hinwegzukommen, die aus dem gnadenlosen kosmologischen Zeitpfeil aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft resultiert: den Tod. Gott war mithin nicht da, als der Holocaust geschah, als sein Volk seine Hilfe am dringendsten benötigt hätte. Er war nicht da, weil er nicht in die Geschichte eingreift. Oder weil Gott einfach nicht existiert.

Der Mensch muss das Grauen, das er verursachen könnte, erkennen und selbst verhindern – nicht Gott. So gelangt der renommierte US-Historiker Robert Katz zu der ernüchternden Schlussfolgerung, dass ein öffentlicher vatikanischer Protest durch Papst Pius XII. gegen die Judenvernichtung die Weltöffentlichkeit wachgerüttelt und die Alliierten bereits 1942 zu frühzeitigem Handeln gezwungen hätte. Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill hätten dem Druck der Öffentlichkeit nicht standhalten können und trotz hoher Verluste unter den KZ-Häftlingen eine Bombardierung der Schienenwege und der Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, Sobibór, Treblinka und Majdanek befohlen.

Der öffentliche Aufschrei der Empörung hätte Hitler gezwungen, die auf Hochtouren laufende Mordmaschinerie des Holocausts für unbestimmte Zeit auszusetzen. Hitler hätte es nicht gewagt, Pius XII. zu entführen oder gar zu ermorden, denn er hätte dadurch seinerzeit weltweit über 500 Millionen Katholiken gegen sich aufgebracht. Auch wäre im Falle eines päpstlichen Protestes der Widerstand innerhalb der Wehrmacht und in den Reihen der Generäle um Hitler gestiegen. Pläne für eine Absetzung oder Ermordung des „Führers” wären wahrscheinlich geglückt. Somit wäre der Krieg viel früher beendet gewesen und die Weltgeschichte heute eine andere. Historiker Katz: „Am Ende müsste man zwar auch so von einem Holocaust sprechen, aber die „Endlösung” wäre zum Scheitern verurteilt gewesen. Wir kommen wahrscheinlich der Wahrheit sehr nahe, wenn wir annehmen, dass von den 6 Millionen jüdischen und von den 5 Millionen nichtjüdischen Opfern, die zusammen mit den Juden umkamen, [...], bis zu 90 Prozent hätten gerettet werden können.”

Wir müssen daher umdenken: In einer Zeit wachsenden religiösen Fanatismus und explosivem Fundamentalismus in den drei monotheistischen Weltreligionen ist Eile geboten für ketzerische Gedanken, für eine neue Interpretation der heiligen Schriften, ja, der Gottesfrage. Wir müssen nun fragen, ob der biblische Gott nicht doch nur eine Erfindung des Menschen ist. Die politische wie religiöse Forderung aus diesem Paradigmenwechsel ist ebenso dramatisch: die monotheistischen Weltreligionen müssen umdenken, bevor ein letzter Holocaust den Nahen Osten, vor allem Israel und das jüdische Volk vernichtet – und dadurch ein dritter Weltkrieg entsteht, der unsere Spezies endgültig vom Erdboden fegt.

Angesichts der unvorstellbaren Steigerung in der Menschheitskatastrophe des Holocaust sollten wir nicht fragen, ob wir noch an Gott glauben können. Nein, wir sollten uns fragen, ob Gott, wenn er überhaupt jemals existierte, noch an uns glauben kann. Gott ist vielleicht der schöpferische Urgrund des Universums – endgültige Gewissheit darüber werden wir wohl nie haben. Wir haben allen Grund zu denken und zu handeln, als ob wir glaubten, der Mensch sei ein Gottesgeschöpf, dessen Macht ihn durch den Tod tragen kann (auch wenn es vielleicht nicht der Fall ist). Nur eine Erkenntnis könnte uns in die Lage versetzen, unsere drohende Selbstvernichtung zu verhindern:

Der biblische Gott ist nur ein Konstrukt der
menschlichen Angst, um unser Wissen über den sicheren Tod irgendwann in der Zukunft zu bewältigen.

© Daniel Gerritzen

Freitag, 5. September 2014

Kurzgeschichte: Der Tod einer Termite

Ein Gefühl der Selbstzufriedenheit durchflutet Nick Yates, als er den Rücken des Ayers Rock nach Stunden des mühseligen Aufstiegs erobert. Am liebsten würde er eine Flagge mit dem Logo seiner Firma in den roten Felsen rammen. 
Was für ein netter Standort für eine neue Software-Schmiede!
Eine blutrote Sonne haucht ihre letzte Wärme über die Wüste. Ein verglühendes Stück Kohle. Yates’ Füße und Kniegelenke schmerzen wie nach einem Marathonlauf. Er seufzt. Vergessen sind die abstürzenden Börsenkurse, der beginnende Krieg im Nahen Osten, die Milliardenverluste durch die Wirtschaftkrise, seine Eheschlacht, seine Diabetes.

Ayers Rock, Australien © Public Domain
Yates nimmt den Buschhut ab, wischt sich mit dem linken Ärmel den Schweiß von der Stirn und lässt sich auf den staubigen Felsen nieder. Er verdrängt die Erinnerung an eine alte Frau hinter der Theke eines Ladens in Alice Springs, die ihn vor ein paar Stunden eindringlich davor gewarnt hat, dass die Besteigung des heiligen Berges der Aborigines Unglück bringen könnte. 
Stattdessen nimmt er einige kräftige Schlucke aus der Feldflasche, rülpst laut und genießt das Farbenspiel des verlöschenden Tageslichts.
Als er seine Blicke über den Monolithen schweifen lässt, bemerkt Yates den nasalen Gesang, den der trockene Wind des Outbacks zu ihm hinüberträgt. Er horcht erstaunt auf.
Ich bin nicht allein? Sind wohl noch andere Touristen unterwegs hier oben.
Etwa hundert Meter von ihm entfernt wiegt sich eine dunkle Silhouette im Rhythmus eines undefinierbaren Singsangs. Yates wird neugierig. Er erhebt sich und nähert sich dem Fremden. Er erkennt einen hageren, nackten Körper, der nur mit einem Lendenschurz bedeckt ist, aschgraues, drahtiges Haar, buschige Augenbrauen, eine fliehende Stirn, breite Nasenflügel, ein von Wind und Wetter zerfurchtes, weise anmutendes Gesicht.
Der erste Aboriginal, dem ich in Australien begegne.
Er pfeift schrill und ruft: »Hi!«
Als keine Reaktion erfolgt, wird Yates ungeduldig. »Hey, du! Was machst du da?«
Das Echo bricht sich in den Falten und Verwerfungen des Ayers Rock. Draußen in der Wüste antwortet ein Dingo mit einem markerschütternden Heulen.
Der Eingeborene hält inne und öffnet die Augen. Er stochert mit einem Ast in der Glut von verbranntem Holz. Das fahle Licht glimmt in seinen Augen. Ab und an knackt es und eine Flamme züngelt hervor. Yates beugt sich zu ihm herunter.
Grillen zirpen ihr unheimliches Dämmerungskonzert.
Einige Sekunden vergehen.
Ein rauhes Brummen. »Ich bete.«
Der Dialekt lässt Yates darauf schließen, dass der Mann einmal längere Zeit in einer größeren Stadt, wahrscheinlich Sydney oder Melbourne, zugebracht hat.
Yates erlaubt sich, neben ihn zu setzen. »Was soll der Bullshit? Hast du deinen Job verloren?«
Er kramt einen Joint aus seiner Hemdtasche und entzündet ihn mit einem silbernen Zippo. Wieder entsteht eine längere Pause.
»Ich bete für die Termite, die ich vorhin auf dem Weg hierher getötet habe.«
Der Eingeborene schließt die Augen und wiegt sich stumm.
Absurd! Der Kerl muss verrückt sein.
Yates inhaliert tief und bläst den Rauch mehr oder weniger absichtlich in das Gesicht des Aboriginal. In Yates’ Kopf spukt plötzlich eine Melodie von The Doors.
Termite © Public Domain
This is the end...
Er fühlt sich an seine Collegezeit erinnert, als die Joints herumgereicht wurden und Sex mit jungen Dingern am College noch unverkrampft war. »Warum betest du für ein Insekt? Und was ist das für ein Lied, das du singst?«
Wahrscheinlich hast du nur zu tief in die Flasche gesehen, so wie all deine Landsleute, Kumpel.
»Es ist das Lied des Todes. Ich hätte den Weg der Termite nicht kreuzen dürfen. Als die Termite starb, hatte ich eine Vision. Meine Zeit ist gekommen. Die Traumzeit sprach zu mir...« 
Der Aboriginal schweigt.
»Was für eine Vision?« Der Joint tut seine Wirkung. Yates schüttelt kichernd den Kopf und nimmt einen weiteren Schluck aus der Feldflasche. Auch er würde bald eine Vision haben, denn das Kraut findet er ganz ausgezeichnet.
This is the end...
»Sprach Johnny Walker zu dir?«
Der Alte bleibt freundlich. Er sagt: »Unzählige Male stieg ich Uluru, unseren heiligen Berg hinauf. Doch niemals zuvor begegnete ich hier einer Termite. Als ich beim Aufstieg den Weg der Termite kreuzte, trat ich sie tot – es war nicht meine Absicht.«
Der Aboriginal hält inne. Jetzt blickt er Yates in die Augen. Sein Blick verfinstert sich. Der reichste Mensch der Erde zuckt zusammen. 
Der Alte sagt: »Vierzigtausend Jahre bevölkerten wir Aborigines den Boden Australiens. Unzählige Male sind Eure Schiffe an unserem Kontinent vorübergesegelt. Aber schließlich habt Ihr uns entdeckt. Als Eure Schiffe vor dreihundert Jahren unsere Ufer erreichten, habt Ihr uns und unsere Kultur getötet. Der Kontakt zu Eurer Zivilisation raubte uns den Sinn unserer Existenz. Ihr gabt uns den Suff, ihr stahlt unsere Träume. So wie ich irgendwann einmal dieser Termite begegnen würde, mussten auch die britischen Invasoren eines Tages die Küsten Australiens sichten. Es war nur eine Frage der Zeit. Als die Termite starb, sah ich etwas. Etwas Schreckliches...«
Er macht mir Angst! Scheiße! Der alte Trottel macht mir wirklich Angst!
»Was sahst du? Rede schon!«, mault Yates.
»Ich sah, wie auch Eure Kultur, Eure Zivilisation starb. Du hast recht. Du hast nicht mehr viel Zeit. Ihr alle habt nicht mehr viel Zeit. Ihr, die uns Aborigines oder die Indianer Nordamerikas ausgerottet habt, werdet bald ebenso Eure Träume und den Sinn Eurer Existenz verlieren.«
Nick Yates war jetzt tief beunruhigt über die Worte des Eingeborenen – er schrieb diese Fassungslosigkeit keineswegs der Wirkung des Joints zu. »Warum... warum soll unsere Zivilisation sterben? Wird es einen Weltkrieg geben?«
Verdammt! Warum frage ich ihn das? Warum habe ich plötzlich nur solche Angst vor ihm?
»Mit einem Weltkrieg würdet ihr noch glimpflich davonkommen.« 
Er lächelt nicht. „Schau – dort oben!«. Der Aboriginal deutet zum Himmel hinauf. Inzwischen ist die Nacht völlig hereingebrochen und Abertausende Sterne funkeln mit hypnotisierendem Glanz auf die Wüste hinab.
»Dort draußen gibt es so viele Welten wie Sandkörner auf der Erde und Geschöpfe, die unendlich weiser sind als Ihr. Eure Zivilisation wird sterben. Die Überlegenheit dieser Kreaturen jenseits der Erde wird Eure Träume stehlen – so wie Ihr uns unsere Visionen von einer friedlichen Zukunft geraubt habt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mit Euch Kontakt aufnehmen. Und wenn Ihr nicht nach ihnen sucht, werden sie Euch entdecken. Es ist jetzt Zeit für mich zu gehen, Zeit, diese Welt zu verlassen.«
Er brummt wieder diese merkwürdig unharmonische Melodie, das Todeslied, vor sich hin. Yates schluckt erschüttert. Er erschauert und drückt den Joint auf dem Fels aus. 
Yates übermannen die Gefühle. Er kämpft mit den Tränen.
»Vergib mir meine Arroganz.« 
Ab und an wagt der reichste Mann der Erde einen verstohlenen Blick zu den Sternen hinauf. Als in der Ferne das Knattern des Hubschraubers erklingt, holt er mit zitternden Fingern sein Mobiltelefon aus dem Rucksack hervor und bittet den Piloten um eine weitere Stunde. 
Denn eine Angst von ungekannter Stärke packt Nick Yates. Er beginnt zu beten und wiegt sich im Rhythmus des Todesliedes. 
Yates betet um Vergebung – für den Tod einer Termite.

© Daniel Gerritzen