Mittwoch, 3. September 2014

Die dunkle Nische

Ich sitze auf der Terrasse und blicke in den Sternenhimmel. Der Wald und die Hügel um das Haus blocken die ferne Lichtkuppel der Innenstadt ab. Es ist daher stockfinster. Die Tür zum Wohnzimmer habe ich zugezogen, um zu verhindern, dass Winkelspinnen ins Haus kommen. Bevor ich jeden Abend zu Bett gehe, prüfe ich meine Bettwäsche, um sicherzugehen, dass sich dort keine Winkelspinne versteckt und nicht nachts über mein Kopfkissen krabbelt. Winkelspinnen sind zwar nützlich und ungefährlich, aber meines Erachtens genauso hässlich wie ihre größeren achtbeinigen Vettern, die Wander- oder Vogelspinnen.
Winkelspinne © Public Domain
Ich gebe zu, dass ich, wie Stephen King, auch unter starker Spinnenangst leide. Je größer die Spinne, umso heftiger ist mein Ekel und mein Reflex, das Tier vom Erdboden zu tilgen.

 Aber es reicht nicht, nur die Bettwäsche nach Spinnen zu durchsuchen. Denn normalerweise verstecken sich die Winkelspinnen sehr gerne in dunklen Nischen. Also prüfe ich nicht nur die Bettwäsche vor dem Schlafengehen, sondern auch alle dunklen Nischen in meinem Schlafzimmer und sogar in der ganzen Wohnung. Das dauert ungefähr eine Viertelstunde. Aber auch wenn ich glaube, dass da keine Spinne ist, kann es passieren, dass ich manchmal auf der Schwelle zum Schlaf ein kaltes Kribbeln auf meinen Wangen oder meiner Stirn spüre. Ich habe keinen Einfluss darauf, was mir während des Schlafs passieren könnte. Spinnen existieren meistens mit uns, ohne, dass wir davon etwas erfahren.

Während ich mit dem Feldstecher in das Sternengewimmel der Milchstraße starre, offenbart sich mir ein bemerkenswerter Zusammenhang zwischen meiner Spinnenangst und der Furcht vor der Dunkelheit, der sogenannten Lygophobie. Meine Erfahrung mit den kleinen Achtbeinern hier in diesem Waldgebiet umfasst die gemeinsame Nachtruhe mit Spinnen in einem dunklen Schlafzimmer. Wenn ich den Feldstecher aus dem Zentrum der Milchstraße wegbewege, stelle ich fest, dass dort draußen viel dunkler Raum ist. Tatsächlich ist der Weltraum abseits der Milchstraße ein schwarzer bodenloser Abgrund.

Blick auf das Zentrum der Milchstraße © Public Domain
Unsere Milchstraße (Grie.: Galaxis) besteht aus 200–400 Milliarden Sonnen. Die nächste Sonne ist Proxima Centauri in 4,3 Lichtjahren Entfernung. Die nächste große Galaxis ist der Andromeda-Nebel M31. Mit über 500 Milliarden Sonnen ist M32 größer als die Milchstraße und ca. 2,5 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt. Ein Lichtjahr ist die Entfernung, die das Licht innerhalb eines Jahres zurücklegt: ca. 9,46 Billionen Kilometer. Multiplizieren wir 9,46 Billionen mit 2,3 Millionen, bekommen wir eine Ahnung davon, wieviele dunkle Kilometer zwischen den Sternen, geschweige denn Galaxien, liegen können. Dabei ist die Andromeda-Galaxis vergleichsweise nahe. Den Entfernungsrekord hält die Galaxis „IOK-1” mit 12,95 Milliarden Lichtjahren. Das Universum an sich ist etwa 13,7 Milliarden Lichtjahre alt. Das beobachtbare Weltall ist aber aufgrund der ständig schneller werdenden Ausdehnungsgeschwindigkeit etwa 93 Milliarden Lichtjahre groß.

Unser Sonnensystem befindet sich in einem der Außenarme der Milchstraße. Die meisten Menschen sind sich nicht bewusst, dass wir auf einer winzigen Insel inmitten eines dunklen kosmischen Ozeans existieren. Es ist in etwa so, als ob ein Schiffbrüchiger, der sich an einem Stück Treibholz festhält, nicht weiß, dass er sich über dem 11 Kilometer tiefen Marianengraben befindet. Ja, wir sind in der Tat Schiffbrüchige, aber um uns herum gähnt ein Abgrund von 93 Milliarden Lichtjahren.

Es ist also menschlich, die lauernde Dunkelheit des Kosmos zu verdrängen.

 Zu den wenigen Menschen, die diese Dunkelheit des Universums schätzen, zählen Astronomen und Romantiker, wie ich, die nachts auf der Terrasse sitzen und vom Sternegucken Nackenschmerzen bekommen. Die eindrücklichste Vorstellung bekommen jedoch Astronauten bei einem Weltraumspaziergang. Es gibt kein „oben”, kein „unten”, kein „rechts”, kein „links”. Die Erde kann über oder unter einem Astronauten sein. Wenn der Astronaut in der Dunkelheit des Weltraums schwebt, darf er nicht daran denken, dass „unter” ihm nichts ist. Er befindet sich ohnehin ständig im freien Fall. Er fällt ins Bodenlose. Sehr eindrucksvoll zeigte das der Thriller Gravity mit Sandra Bullock aus dem Jahr 2013. Man benötigt als Astronaut eine starke Psyche, um die Ungeheuerlichkeit des dunklen Weltraums zu verarbeiten und nicht verrückt zu werden.



Der normale Bürger auf der Straße interessiert sich jedoch meistens nicht für den Weltraum. Er interessiert sich nicht für die Frage, ob wir allein sind in den Weiten des Alls. Das liegt erstens an der Tatsache, dass das Bedrohliche des Alls abstrakt und fern ist. Die unmittelbaren Erfahrungen des Menschen mit dem Weltraum umfassen lediglich Phänomene wie Meteore, Meteoriteneinschläge, Sonnenauf- und untergänge, Mondzyklen. Größere Katastrophen, wie etwa eine Supernova-Explosion des roten Riesensterns Beteigeuze in der unmittelbaren kosmischen Umgebung, ein Asteroiden- oder Kometeneinschlag oder ein Besuch von Außerirdischen, scheinen vorerst nicht in Sicht. Die Betonung liegt auf „scheinen”. Warum spreche ich von Bedrohung? Weil sich der Durchschnittsbürger meistens erst dann für Dinge außerhalb seines Interessenspektrums interessiert, wenn sie sein Leben bedrohen. Wenn er also Angst vor ihnen hat. Wenn das Universum uns in Form einer Invasion durch Außerirdische bedrohen würde, wäre das Interesse plötzlich sehr lebhaft.

Zweitens ängstigt die Dunkelheit des Universums viele Menschen. Deswegen verdrängen sie Fragen, wie: „Sind wir allein im Universum?” oder „Was wäre, wenn uns Außerirdische besuchen?” Die Verdrängung der Frage nach außerirdischem Leben ist ein Schutzmechanismus der menschlichen Psyche, um das maximale Fremde intellektuell zu bewältigen und von sich fernzuhalten. So wie ich die Spinnen – das unmittelbare maximale Fremde für mich – in der Finsternis des Schlafzimmers von mir fernhalten will. Das Meer der kosmischen Dunkelheit, durch das die Erde zusammen mit den anderen Planeten des Sonnensystems die Milchstraße umkreist, ist gleichbedeutend mit dem Unbekannten. Wenn also Leute sagen: „Es interessiert mich nicht, ob da draußen noch andere Lebewesen sind!”, dann ist das eine glatte Lüge.

Dieses vermeintliche Desinteresse ist eigentlich eine Verdrängung der Angst, dass da draußen etwas lauern könnte, wie Spinnen in dunklen Nischen, die mit uns existieren, ohne, dass wir davon etwas erfahren.

 Zum Beispiel Außerirdische in Gestalt von menschengroßen Vogelspinnen, die uns vielleicht technologisch und intellektuell weit überlegen sind. Denn die dunkelste Nische ist für uns Menschen das Universum über unseren Köpfen mit all seinen Geheimnissen – und potentiellen interstellaren Gefahren.
 

In der Ferne bellt ein Hund. Grillen zirpen ihre unverständlichen Gebete. Durch das Sternengewimmel der Milchstraße zieht schnurgerade ein Licht und schlägt dann unerwartet einen Haken. Offensichtlich kann es kein Satellit sein. Merkwürdig, denke ich.


Etwas krabbelt mein Schienbein hoch. Ich erstarre.

© Daniel Gerritzen


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