Mittwoch, 19. November 2014

Über Mut und Angst

„Warum hinauf?”
Auf der Leinwand des Kongresszentrums Bochum erscheinen diese zwei Worte, die Reinhold Messner vor über fünf Jahrzehnten in ein Notizbuch geschrieben hat. Offensichtlich hat er sich damals gefragt, warum er sich überhaupt den Strapazen einer Bergbesteigung aussetzen soll. Der Mann, der alle vierzehn Achttausender ohne Flaschensauerstoff bestiegen, die Wüste Gobi, Grönland und auch die Antarktis zu Fuß durchquert hat, muss inzwischen eine Antwort auf diese Frage gefunden haben. Doch er gibt sie zwischen den Zeilen. Während ich seinem Vortrag lausche, ist mir die Antwort nicht klar. Denn eine Bergbesteigung ist nicht lebensnotwendig, daher also eigentlich ziemlicher Blödsinn. Messner spricht über die Angst, die ihn befällt, wenn er eine Bergwand erklimmt, etwa in den Dolomithen oder am Nangar Parbat im Westhimalaya. Die Angst, einen Berg zu besteigen, um dann durch Unachtsamkeit abzustürzen, unter einer Lawine begraben zu werden – oder schlicht zu erfrieren. „Wir besteigen Berge, um nicht dort umzukommen, wo Menschen umkommen.”


Reinhold Messner © Daniel Gerritzen
Reinhold Messner wandelte bei der Besteigung eines Berges oder der Durchquerung der Antarktis stets auf einem rasiermesserscharfen Grat zwischen Leben und Tod. Je höher er stieg oder je weiter er ging, umso „toter” war er eigentlich als Lebender. Er war stets umgeben von einer Aura des plötzlichen Todes. Messner wusste, dass die Besteigung eines Berges den sicheren Tod bringen kann (zwei Brüder hat er verloren). Messner versuchte, so lange und so gut es ging, dem Tod zu entkommen. Er versuchte, sich durch seine Ausdauer und seine Geschicklichkeit der hohen Wahrscheinlichkeit zu widersetzen, abzustürzen. Das schlimmste, das einem Bergsteiger also passieren kann, ist es, von der Angst gelähmt zu werden, es doch nicht bis zum Gipfel zu schaffen und dadurch zu sterben. Wenn ein Bergsteiger Zweifel hat, eine Wand oder einen Berg nicht bezwingen zu können, sollte er es einfach sein lassen. So wie Reinhold Messner, der es vorzog, die Nordwand des 1344 Meter hohen Ben Nevis – des höchsten Berges von Großbritannien – nicht hochzuklettern. Während Messner über die Einstellung zu seinen Ängsten referiert, schweifen meine Gedanken ab.

6. August 1996. Schottland. Fort William. Mein Freund Emile und ich spinnen davon, den Ben Nevis zu besteigen, nachdem wir ein junges Paar aus Portugal befragen, das von der grandiosen Aussicht dort oben schwärmt.
Mein Problem: Ich habe nur Straßenschuhe dabei. Und auch sonst bin ich nicht sonderlich trainiert. Außerdem ist Schottland für seine exzellenten Biere bekannt, die wir in den letzten Tagen ausgiebig probiert haben. Von unserem Zeltplatz aus können wir durch das Fernglas sehen, wie mit Rucksäcken bepackte Touristen den Berg hinaufsteigen. Jetzt taucht ein Hubschrauber der Bergwacht mit lautem Knattern auf. Wir erfahren, dass Ben Nevis als „the venomous one”, der „Böse” verschrien ist. Denn jedes Jahr sterben dort oben statistisch gesehen neun Menschen. Der Grund: falsches Schuhwerk, Selbstüberschätzung der eigenen körperlichen Fähigkeiten, unzureichender Proviant, Schwächeanfälle, blitzartig hereinbrechende Schlechtwetterfronten.
„Offensichtlich ist wieder jemand abgestürzt”, sage ich zu Emile. „Sonst würde die Bergwacht nicht fliegen.”
Emile zuckt die Achseln. „Wir müssen ja nicht abstürzen.”
Mir bleibt das Lachen im Hals stecken.

Wir machen uns am nächsten Morgen nach einem ausführlichen schottischen Frühstück mit Eiern, Speck und Bohnen auf den Weg. Im Gepäck sind Sandwiches, Mars-Riegel und Wasserflaschen. Aber nicht nur mein Kumpel Emile begleitet mich – auch ein Gefühl der undefinierbaren Angst in meinem Bauch, dass „The Venemous one” auch böse auf mich sein könnte. Dass ich einen Kreislaufkollaps bekommen oder mit den glatten Sohlen meiner schwarzen Straßenschuhe abrutschen, tief stürzen und sterben könnte.
„Ich bin verrückt, dass ich das mache!”, denke ich.
Niemand zwingt mich dazu.Während des Aufstiegs geht mir die Tatsache nicht aus dem Kopf, dass Reinhold Messner den Ben Nevis stets vermieden hat. Während wir Naturstufen aus Steinbrocken hinaufsteigen und alle paar hundert Meter Halt machen müssen, um zu verschnaufen, spüre ich, wie meine Unsicherheit, die Angst, einen Fehler zu machen, Überhand nimmt. Also versuche ich mich zu konzentrieren. Ich versuche, durch die Anstrengung meine Sinne zu schärfen.

Aber immer wieder rutsche ich ab, knicke beinahe um. Auf halber Höhe erreichen wir den Sattel. Wir erahnen durch ein Loch in der Nebelwand winzige Punkte unten auf dem Zeltplatz von Fort William. Das Wasser ist bereits ausgegangen. Zum Glück finden wir einen Gebirgsbach und füllen die Flaschen mit eiskaltem Wasser nach. Mir bereitet die Waschküche um uns herum Sorgen. Ben Nevis ist berüchtigt für seine plötzlichen Temperaturstürze, die unberechenbaren böigen Winde. Uns raubt die rauhe Schönheit eines Sees auf dem Bergsattel den Atem. Aber die Erkenntnis, dass wir nach zwei Stunden des Aufstiegs weniger als die Hälfte hinter uns haben, entmutigt mich. Jetzt überkommen mich verstärkt Zweifel über den Sinn des Unternehmens. Ich bleibe stehen, wie ein streikender Esel. „Warum soll ich da hoch?”, maule ich.


Ben Nevis © Public Domain
Ich frage mich, wer die Idee hatte, den Ben Nevis zu besteigen. In diesem Moment bin ich mir sicher, dass ich es nicht war. Eigentlich hatte es keiner von uns beiden ausgesprochen. Es war eher so etwas wie: „Man könnte ja mal...”
Aus einer Eventualität wurde Wirklichkeit. Reinhold Messner nennt das: Aus einem Projekt eine Wirklichkeit schaffen.
„Du kannst gerne umkehren”, sagt Emile. Sein Gesicht zeigt erste Anzeichen von Erschöpfung.
„Und Du?”, frage ich.
„Ich gehe allein weiter bis zum Gipfel.”
Eine Antwort, warum ich den Berg hinaufsteige, habe ich immer noch nicht gefunden.
„Warum mache ich diese Scheiße hier überhaupt?”, murmele ich. „Warum bringe ich mich in Gefahr?”
Ich gehe auch weiter. Aus irgendeinem unbekannten Antrieb.

Nach vier Stunden windet sich der „Weg” durch Geröllfelder hinauf zum Gipfel. Meine Beine fühlen sich wie Pudding an. Die Zehen schmerzen. Ich könnte schwören, dass ich Blasen an den Fersen habe. Als ich einen englischen Gentleman, der uns von oben mit einem Lächeln auf dem Gesicht entgegen kommt, frage, wie weit es bis zum Gipfel ist, sagt er: „Nur noch vier weitere Kehren.”
„Ermutigend”, japse ich mit erstickter Stimme.
Er lacht. „Oben ist strahlendster Sonnenschein. Der Aufstieg lohnt sich.”
Wir kämpfen uns weiter hoch. Wir werden immer langsamer. Mir ist nach Kriechen zumute.

Kurz vor dem Gipfel sind meine Beine so schwach, dass ich immer wieder abrutsche und beinahe hinfalle. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Aber dann durchbricht die Sonne den Nebel. Mehrere hundert Meter weiter – und etwa eine halbe Stunde später – erblicke ich eine Steinhütte und einige Geröllhaufen. Als wir die Steinhütte erreichen, lese ich, dass der Erstbesteiger des Mount Everest, Sir Edmond Hillary, den Ben Nevis als Trainingsberg benutzte. Und ich sehe einen Mann im Trainingsanzug, der offenbar hier hochgejoggt ist. Ich will einfach nur losheulen, aber es kommen keine Tränen.
„Trainingsberg?”, keuche ich.
„Wir sind da!”, sagt Emile und schaut auf die Uhr. „Nach fünf Stunden haben wir es geschafft und unseren inneren Schweinehund überwunden. Das ist das wichtigste.”
Meine Angst ist verschwunden. Der Wille, den Berg hinaufzusteigen, hat meine Furcht vor dem Tod bezwungen.
Ich kann nur noch nicken. Ich fühle keine Euphorie, denn ich bin zu erschöpft.
Nach einer halben Stunde Pause machen wir uns auf den Weg hinunter. Das Abbremsen ist noch anstrengender als der Aufstieg. Nach drei Stunden Abstieg erklingt unten im Tal eine schöne Dudelsackmelodie. Jetzt scheint auch hier unten die Sonne.
Ich kann endlich heulen.

Die Stimme Reinhold Messners reißt mich aus meinen Erinnerungen. Er spricht davon, dass Mut und Angst zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Ohne Angst kein Mut, ohne Mut keine Angst. Angst ist notwendig für das Überleben – selbst für einen solch erfahrenen Bergsteiger wie ihn. Besonders wichtig für ihn ist es, seine Ängste mit anderen Bergsteigern zu teilen. Um alle vierzehn Achttausender zu besteigen oder die Antarktis zu durchqueren, musste Messner erst den Mut entwickeln, sich seinen größten Ängsten zu stellen und auch darüber sprechen zu können.


Reinhold Messner und Dan Gerritzen
© Thorsten Stadtler
„Warum hinauf?”
Achtzehn Jahre nach meinem Ben Nevis-Aufstieg weiß ich es plötzlich. Die Antwort lautet: um im Leben durchzuhalten. Und um den Mut zu finden, mich meinen größten Ängsten zu stellen.

Am Buchstand kaufe ich Reinhold Messners Autobiographie „Überleben” und lasse sie mir von ihm signieren. Dann danke ich ihm herzlich für die Erkenntnis. Und wünsche ihm alles Gute.

© Daniel Gerritzen

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