Mittwoch, 21. Januar 2015

Die Angst vor dem Kontrollverlust

Am Freitag, den 5. Oktober 2007 sitze ich im Wohnzimmer und entspanne mich bei ein paar Takten Musik von einem harten Arbeitstag. Da es schon nach Mitternacht ist und ich meine Nachbarn nicht aus dem Bett holen will, dringen die schönen Melodiebögen und atemberaubenden Tempiwechsel meiner Lieblingsband RUSH nur mit sehr moderater Lautstärke aus den 100-Watt-Boxen meiner alten Stereoanlage. Tatsächlich ist die Musik recht leise. Um ehrlich zu sein, muss ich ständig dem starken Drang widerstehen aufzustehen und die Musik lauter zu stellen (was angesichts der Genialität der drei Kanadier, insbesondere des Schlagzeugers Neil Peart, nicht einfach ist).

Neil Peart 2011 © Daniel Gerritzen
Während ich also dem Song Subdivisions (vom Album „Signals”) lausche und mein Blick die Stereoanlage etwa zwei Meter fünfzig von mir entfernt streift, geschieht etwas sehr Unheimliches. In diesem Moment hämmert mein Herz wie wild los. Auf meinem gesamten Körper erscheint eine Gänsehaut. Ich sehe, dass sich der Lautstärkeregler aus unerfindlichen Gründen selbst dreht. Die Musik wird plötzlich lauter. Ich stürze zur Stereoanlage und halte den Knopf fest.
Was ich nun fühle, grenzt an Panik. Denn ich habe das Gefühl, dass jemand – oder etwas – gegen meine Kraftanstrengung den Lautstärkeregler aufdreht. Die Finger meiner Knöchel werden weiß, so sehr versuche ich, die Lautstärke leiser zu drehen. Doch vergeblich. Die Musik wird lauter und lauter.


Ich drücke dagegen. Ich höre das Summen des Drehmotors. Ich frage mich, was ich tun kann, um diesem Spuk ein Ende zu bereiten. Der Strom, zuckt es durch mein Hirn. Ich wühle in der Verkabelung herum und reiße mit zitternden Fingern das Stromkabel aus der Anlage.
Die Musik verstummt jäh. Ich atme aus. Stille. Mein Herz pocht bis zum Hals. Für einen Moment stehe ich entsetzt vor der Anlage, um dann verstört meine rechte Hand von der warmen Metalloberfläche zu lösen.
„What the fuck...?”, rufe ich. 


Ich blicke mich um. Außer mir ist niemand im Wohnzimmer oder in der Wohnung. Ich frage mich, was möglicherweise diese vermeintliche Fehlfunktion ausgelöst haben könnte. Meine erste Theorie ist, dass sich die Gummiknöpfe der Fernbedienung, die auf dem Tisch vor mir liegt, irgendwie verhakt haben könnten, so dass der Knopf für die Lautstärke den Befehl für „Lauter” zur Anlage funkte. Ich untersuche die Fernbedienung. Aber zu meiner wachsenden Beunruhigung sehe ich, dass mit der Fernbedienung alles in Ordnung ist. Kein Knopf hakt oder ist verklemmt. Außerdem habe ich die Lautstärke in der letzten Stunde nicht verändert. Warum sollte dann ausgerechnet jetzt ein verhakter Knopf den Befehl für „Lauter” gesendet haben? 

Diese Theorie kann ich verwerfen. Dann erinnere ich mich. Im Oktober 2003 hatte ich ein ähnliches Erlebnis bei Umzugsvorbereitungen gehabt. Auch damals war ich allein in meiner Wohnung gewesen, umgeben von Umzugskartons. Damals hatte sich die Stereoanlage von selbst eingeschaltet (sie ist definitiv nicht programmierbar). Anschließend hatte sich der Lautstärkeregler ohne erkennbare Ursache lauter gedreht – und mir einen Riesenschrecken eingejagt. Was ich damals als Fehlfunktion eingestuft hatte, stellt sich jetzt als wiederkehrendes Phänomen heraus. Zwischen beiden Ereignissen liegen vier Jahre. Vier Jahre, in denen sich nichts Unheimliches dieser Kategorie ereignet hatte.


Das IGPP in der Wilhelmstraße in Freiburg i.Br.
© Public Domain
Abgesehen von diesen Begebenheiten (und den mysteriösen Umständen vom 6.6.2006) habe ich bis heute, Stand: März 2015, keinerlei außergewöhnliche Erfahrungen mehr gemacht. Meine Stereoanlage arbeitet bis heute fehlerfrei (wie man es von japanischer Technik erwarten kann). Nach den Erlebnissen der vergangenen Jahre frage ich mich heute, ob ich allein bin. Meine Recherche förderte Erstaunliches zutage: So kommt eine empirische Studie des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) in Freiburg i. Br. aus dem Jahr 2002 auf der Basis einer repräsentativen Umfrage unter 1510 Personen zu dem Schluss, dass derartige Phänomene alltäglich und weit verbreitet sind in der deutschen Bevölkerung. Mehr als 50 Prozent der Befragten berichteten, dass sie einmal Phänomene wie Vorahnungen oder Wahrträume am eigenen Leib erfahren hätten. Besonders interessant ist die Tatsache, dass die Erfahrung außergewöhnlicher Erlebnisse mit dem Alter anscheinend abnimmt. Je jünger Menschen sind, umso häufiger machen sie diese Erfahrungen. Dabei sind die Erlebnisse unabhängig vom Bildungsgrad, der Herkunft, dem Geschlecht oder etwa der Religion.

Fazit: Anomalistische Phänomene sind real existent. Laut Studie des IGPP treten diese Ereignisse stets spontan auf. Die mangelnde wissenschaftliche Reproduzierbarkeit ist auf den ersten Blick der Grund, warum die akademische Welt – abgesehen von den wenigen mutigen Psychologen und Soziologen – diese Erfahrungen nicht weiter erforscht. Der wahre Grund jedoch ist die Angst vieler Wissenschaftler vor dem absoluten Kontrollverlust. Kontrollverlust deshalb, weil Träume, die plötzlich wahr werden oder Stereoanlagen, die grundlos lauter werden, nicht erklärbar sind. Die Nichterklärbarkeit würde die Kompetenz und den Erfahrungshorizont der Wissenschaftler auf sehr harsche Weise an ihre Grenzen stoßen lassen. Die Folge wäre das Eingeständnis der Hilflosigkeit gegenüber diesen Phänomenen, die die experimentelle Parapyschologie in zwei Kategorien unterteilt: 


1. den kognitiven Aspekt, der die mentalen Prozesse im Gehirn des Menschen betrifft und etwa Telepathie, Fernwahrnehmung oder Wahrträume umfasst und 

2. den motorischen Aspekt, d.h. die Frage, ob Menschen mit der Kraft ihrer Gedanken Materie beeinflussen können (Psychokinese). 

Dabei könnte es eine natürliche Erklärung für das merkwürdige Verhalten meiner Stereoanlage geben. Starke Temperaturschwankungen innerhalb der Transistoren hätten dafür sorgen können, dass die Stereoanlage lauter wurde. Jemand hätte sich mit einer Infrarotfernbedienung, die Befehle auf einer identischen Frequenz sendet, im Wohnzimmer meiner Wohnung verstecken können, um mich zu erschrecken. Ein Spannungsschock, ausgelöst durch den Einschlag eines Blitzes, hätte die Anlage lauter werden lassen können. Oder eine Oxidation der Kontakte hätte den Ein-Aus-Schalter bzw. den Lautstärkerregler verrückt spielen lassen können.
Aber: Die Anlage war keiner starken Temperaturschwankung ausgesetzt. Ich war eindeutig allein in meiner Wohnung. Auch ein Blitzeinschlag hätte nicht nur die Stereoanlage zerstört, sondern vielleicht sogar meine Wohnung in Brand gesetzt. Selbst eine Oxidation der Kontakte für den Ein-Aus-Schalter bzw. des Lautstärkerreglers scheidet aus, denn die Anlage wurde in Japan aus rostfreien elektronischen Komponenten konstruiert. Und japanische Techniker machen äußerst selten Fehler.


William von Ockham
© Public Domain
Das auf den angelsächsischen Franziskanermönch William von Ockham (1288–1347) zurückgehende „Rasiermesser” besagt, dass a) von mehreren Erklärungsmöglichkeiten die einfachste zu bevorzugen ist und b) eine Theorie zur Erklärung eines Ereignisses so wenig wie möglich logische Brüche und Widersprüche enthalten darf. So war die einfachste Erklärung für Ockham immer die richtige. In anderen Worten: Es ist wahrscheinlicher, dass ein übermüdeter Ingenieur einen Putzlappen in einer sensiblen Stelle der Treibstofftanks des Space Shuttle Challenger vergaß, als dass libysische Terroristen im Auftrag von Muhammar al-Gaddafi die Raumfähre zur Explosion brachten. Warum? Weil es mit weniger kausalem Aufwand verbunden ist, einen Putzlappen zu vergessen, als eine Verschwörung libyscher Terroristen zu bemühen, deren Ziel es war, das Space Shuttle kurz nach dem Start am 28. Januar 1986 in die Luft zu sprengen.

Doch bei mindestens einem weiteren Fall versagt Ockhams Rasiermesser ebenso. Michael Shermer, ein experimenteller Psychologe an der Claremont University in Kalifornien und Gründer der Zeitschrift Skeptic, scheint etwas Ähnliches erlebt zu haben wie ich. Normalerweise ist der bekennende Atheist und gnadenlose Skeptiker bekannt dafür, alle anomalistischen Ereignisse, die von Menschen in aller Welt berichtet werden, mit Hilfe des rationalen Verstands und Ockhams Rasiermesser zu erklären. In seiner Kolumne für das angesehene Wissenschaftsmagazin Scientific American berichtete Shermer, dass seine aus Köln stammende Ehefrau Jennifer, die er im Juni 2014 heiratete, bei ihrem Einzug in Beverly Hills ein altes Radio von ihrem Großvater mitbrachte. Mehrere Versuche Shermers, das Radio mit neuen Batterien oder durch eine Reparatur in Betrieb zu nehmen, schlugen fehl. Seines Erachtens war es eindeutig defekt. Selbst „Draufhauen” half nicht mehr, um irgendwelche Wackelkontakte kurzzeitig wieder zu schließen, wie er in seinem Artikel ausführt. So steckten die Shermers das Radio in den hinteren Winkel der Schublade ihres Schreibtisches im Schlafzimmer. Entsorgen wollten sie es nicht, da das Radio einen zu hohen ideellen Wert für Jennifer Shermer hatte. 


Michael Shermer © Public Domain
Das Unerklärliche geschah drei Monate später, als Jennifer Shermer ihrem Mann gerade beichtete, dass sie ihre deutschen Freunde und ihren Großvater vermisse. In diesem Moment erklang Musik aus einem hinteren Teil des Hauses, genauer, dem Schlafzimmer. Nachdem die Shermers ihre I-Phones, Notebooks und sogar den Drucker auf dem Schreibtisch kontrollierten, mussten sie feststellen, dass die Musik von dem defekten Radio ausging. Es funktionierte plötzlich wieder. Es spielte einige Stunden – seitdem schweigt es.

Die Erklärung nach Ockhams Rasiermesser würde lauten, dass sich irgendein Kontakt kurzzeitig geschlossen hatte, sodass das Radio wieder funktionierte. Oder Michael Shermer hat den Vorfall von langer Hand geplant, um irgendwann sein erzkonservatives Skeptikertum ablegen zu können. Dagegen spricht natürlich, dass sich Michael Shermer mit seinem Eingeständnis, Zeuge eines solch unerklärlichen Vorfalls geworden zu sein, öffentlich lächerlich machen würde.

Doch das Gegenteil ist nun der Fall: Das Ereignis hat Michael Shermers skeptische Sichtweise so sehr verändert, dass er nun für eine agnostische Sicht auf unerklärliche Ereignisse plädiert. Der naturwissenschaftliche Geist, so Shermer, müsse offen sein für das Rätselhafte und Unerklärliche.


Es gibt keinen Beweis dafür, dass Shermers Ereignis stattgefunden hat, nur zwei Zeugenaussagen. Aber ich glaube Michael Shermer, weil ich Ähnliches erlebt habe. Andererseits denke ich nicht, dass der Shermer-Vorfall irgendetwas mit dem Jenseits und Jennifer Shermers Großvater zu tun hatte, sondern vielmehr – wenn sich keine natürliche Erklärung ergibt – mit psychischer Externalisierung von Stress. Im Falle von Michael Shermers Frau Jennifer ist das Stressmoment klar benannt: sie vermisste ihren Großvater und hatte starkes Heimweh nach Deutschland. Somit war es kein übernatürliches, sondern vielleicht ein parapsychologisches motorisches Ereignis der Kategorie 2 (Psychokinese). Aber das ist Spekulation. Es bleibt ein anomalistisches Ereignis. Es ist nicht erklärbar – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Charles Fort © Public Domain
Der amerikanische Schriftsteller und Sammler von unerklärlichen Vorfällen, Charles Fort, bezeichnete diese Phänomene in seinem 1932 erschienenen gleichnamigen Klassiker schlicht als Wilde Talente. Meine Erlebnisse gehören, wie Shermers Erlebnisse, in die Kategorie 2 – und bislang habe auch ich keine Erklärung dafür. Habe ich ein „wildes Talent”? Haben die Shermers ein „wildes Talent”?

Ich glaube nicht. Und dennoch ist da etwas, das sich meinem und Michael Shermers Wahrnehmungshorizont entzieht. Wie Shermer, so bin auch ich nun offen für das Rätselhafte (Schriftsteller leben davon...), behalte mir jedoch meine Skepsis und die Möglichkeit einer orthodoxen Erklärung vor. Ich habe keine Angst vor dem Kontrollverlust.

© Daniel Gerritzen